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Kultur: Der Archipel Guldenberg

Christoph Heins neuer Roman „Landnahme“ zerstört den Mythos einer friedlich freundlichen Nischengesellschaft in der DDR

Als ein Berliner Sozialarbeiter nach einem vierjährigen Aufenthalt in Görlitz zurückkommt, erzählt er eines Sonntags in einer Galerie eine kleine Geschichte. Der Bruder seiner Görlitzer Freundin sei Bankfilialleiter gewesen. Als er diesem einmal berichtet habe, dass der neue deutsch-polnische Jugendclub in Görlitz auf seine Initiative mit zurückgehe, habe der Bankfilialleiter, Mitte dreißig, bemerkt: „Wir hier mögen die Polen nicht.“

Bernhard Haber, die Hauptfigur von Christoph Heins neuem Roman „Landnahme“, ist in Breslau geboren und nach dem Zweiten Weltkrieg aus Wroclaw nach Guldenberg gekommen, in ein von Hein erfundenes Städtchen der DDR. Vater Haber war Kriegsgefangener und ist Vertriebener, dazu hat er, ein Tischler, im Krieg einen Arm verloren. Ein einarmiger Tischler? Auch noch einer von drüben, aus Polen? Kein Guldenberger würde beim Haber arbeiten lassen. Und als Sohn Bernhard in der Schule vorgestellt wird, sagt ein Junge aus einer hinteren Reihe zur Begrüßung halblaut, aber vernehmlich: „Polacke.“

Christoph Hein, der am 8. April sechzig Jahre alt wird, ist im schlesischen Heinzendorf geboren, wo sein Vater Pfarrer war, Hein wuchs nach der Flucht im Pfarrhaus von Bad Düben bei Leipzig auf. Der Autor war zu jung, um die eigene Vertreibung zu erinnern, aber es bleibt interessant, was sein im Suhrkamp Verlag erschienener, politisch nur vordergründig harmloser Roman „Landnahme“ aus dem neuen deutschen Modethema macht. Während es nämlich sonst gern dazu verführt, die Deutschen aus einem Täter- in ein Opfervolk zu verwandeln, und damit die leider wirklichkeitsnähere Verallgemeinerung durch eine weit weniger überzeugende abzulösen, liegt bei Hein das Augenmerk nicht auf den Taten von Polen, Russen oder Tschechen. Hein dreht das Rad ein Stück weiter. Nach „Landnahme“ muss man sich fragen: Was haben „wir Deutschen“ westlich von Oder und Neiße mit den Vertriebenen gemacht, als sie zu uns kamen? Hat die feindliche Aufnahme, der sie begegneten, etwa mit zu ihrer Fixierung auf die alte Heimat beigetragen?

Gruppenbild mit Außenseiter

Die Lebensgeschichte des Vertriebenen-Sohnes Bernhard Haber, die den Leitfaden dieser „Landnahme“ knüpft, wird bei Hein aus der Sicht von fünf Guldenbergern erzählt. Wobei die erste und die letzte der Perspektiven auch Teil der auf wenige Seiten beschränkten Rahmenhandlung sind, dem Guldenberger Karneval des Jahres 1997.

Über fünf Einzelansichten ensteht nicht nur Habers Lebensbild, sondern auch das Panorama einer engen Kleinstadt: „Horns Ende“ verwandt, dem vor knapp 20 Jahren erschienenen Roman Heins, den er ebenfalls im fiktiven Guldenberg spielen ließ.

In „Landnahme“ erzählt ein Mitschüler – Thomas Nicolas, wie der Thomas in „Horns Ende“ ein Apothekerssohn – Habers unglückliche Ankunft und Kindheit; es folgt die Geschichte des ersten Mädchens, das mit Haber „geht“ und sich von ihm trennt, weil er als Opportunist in Parteidienste tritt. Ein Mann namens Peter Koller erzählt, wie Haber sein Geld dann zeitweilig als Schlepper für DDR-Flüchtige verdiente; mit Katharina, der Schwester seiner späteren Frau, hat Haber zum erstenmal Sex, und Sigurd Kitzerow, der Guldenberger Sägewerksbesitzer, ist mit Haber, der in der Nachwendezeit schließlich zum Chef einer mittelgroßen Tischlerei und einer der Honoratioren Guldenbergs geworden ist, im Vorstand des Karnevalsvereins.

Was Christoph Hein in „Landnahme“ erzählt, ist die Geschichte eines Anpassers und Aufsteigers dank Fluchthelfergeld und Tatkraft. Doch bis es dahin kommt, geht Bernhard Haber einen langen Weg. Die ersten hundert Seiten des Romans gehören zum besten, was Hein geschrieben hat. So kühl und konzentriert wie in der Novelle „Drachenblut“ (1982) wird das Leben eines Außenseiters entworfen: Haber, der ständig bedrängt wird, aber nicht schwach ist. Haber, der klein ist, aber besser prügelt als andere, und sich deswegen sofort Respekt verschafft. Trotzdem wirkt Haber sympathisch, weil er kein Angeber ist, sondern zurückhaltend, verstockt. Seine mühsam kontrollierte, kalte Aggressivität ist die Reaktion auf die Atmosphäre Guldenbergs, das solche wie Haber nur an den Rand drängen kann. Sein Hund wird erwürgt, die schäbige Tischlerei des Vaters wird angezündet und schließlich der Vater auch noch umgebracht. Er habe eine solche miefige, aber gefährliche Klein- stadt, so Hein einst in einem Gespräch über „Horns Ende“, in seiner Jugend nicht genauso, aber ähnlich erlebt. In seinem 1997 erschienenen Entwicklungsroman „Von allem Anfang an“ hatte er noch ein etwas idyllischeres, humoristischeres Bild einer Pfarrhausjugend in den fünfziger Jahren geliefert.

Ist jede Kleinstadt gleich? Der Ort Habers und Heins liegt in der DDR, doch es dauert, bis dieses Land in „Landnahme“ näher erkennbar wird: Auf Seite 40 leuchtet das Wort „Volkseigentum“ auf, doch sind solche Signale hier kein Einstieg in eine Auseinandersetzung mit der DDR. Es geht Hein, einem der überzeugendsten intellektuellen Protagonisten der friedlichen Revolution von 1989, diesmal nicht in erster Linie um den versunkenen Ex-Staat, vielmehr um die Darstellung einer Existenz, wie sie in vielen politischen Systemen möglich ist.

Doch kann man eine Diktatur als Existenzbedingung weitgehend ausklammern? Hein gerät nie in die Walser-Gefahr der schwärmerischen Beschwörung einer diktaturfreien Kindheit, doch vermeidet er ganz offensichtlich Begriffe wie „Stasi“ oder „SED“. „Partei“ ist da schon das schlimmste Wort, das fällt. Oft ist auch ironisch von „den Fortschrittlichen“ die Rede, und in jener Zeit, in der Haber sich unter dem Einfluss einer jungen Karrieristin politisch anpasst, hilft er den Fortschrittlichen, ein paar Bauern in die Genossenschaft zu treiben. Die Zwangskollektivierung war in ländlichen Gebieten eines der einschneidensten Politik-Erlebnisse, und ist Haber nicht schließlich eine Zeit lang Fluchthelfer geworden? Wohl ein deutliches Zeichen, dass etwas faul war im Staat.

Trotzdem bleibt eine Irritation: Unter den fünf Erzählern ist kein Täter, kein Opfer. Alle wurschteln sich durchs Leben, und alle sind sie skeptisch gegen jene, die politisch besonders „eifrig“ sind. Gerade auch das Fluchthelferkapitel, ohnehin die Schwachstelle des Buchs, bleibt vage. Kein einziger Flüchtling kommt zu Wort. Hein, stets skeptisch gegenüber der Politisierung von Literatur durch zeitungsträchtige Themen, hat sich hier zu sehr auf ein solches Thema verlassen und dabei seine Hauptfigur voll abgeklärter Diskretion und Immanenz fast vergessen.

Die Hölle sind nicht die anderen

Erst allmählich wird deshalb klar, worin die eigentliche Provokation von „Landnahme“ liegt. Zwar erscheint die DDR in Christoph Heins neuem Roman an der Oberfläche als politisch vergleichsweise harmlos, doch das ändert nichts an der verlustreichen Lebenswirklichkeit. Der große Mythos, der die verblichene Existenz der DDR begleitet: dass sie für den Einzelnen ein Ort der Freundschaft, der menschlichen Nähe gewesen sei, wird hier wie nebenbei demontiert. Die skandalöse Politik war nicht das Problem, sagt dieser Roman, es waren die Menschen, die sich das Leben zur Hölle machen konnten.

So geht der Guldenberger Mord am Vertriebenen-Tischler Haber nicht auf das Konto der Stasi, er wurde von einem besoffenen Konkurrenten organisiert. Und im Schlusskapitel, wo doch die gewendete DDR aus der Sicht des Sägewerksbesitzers Kitzerow zur blühenden Landschaft mutiert ist, treibt Bernhard Habers Sohn Paul zwei „Fidschis“ aus dem Karnevalszug und zeigt sich trotz Ermahnung durch den Vater ohne Einsicht. Die Vertriebenen, das waren noch Deutsche. Christoph Hein hat mit dieser „Landnahme“ erzählerisch ein ungemütliches Land besiedelt und eine DDR entdeckt, die ihre Altlast – den dumpfen Umgang mit Fremdem – lange schon mit sich schleppt.

Christoph Hein: Landnahme. Roman. Suhrkam Verlag, Frankfurt am Main 2004. 357 Seiten, 19,90 Euro.

Heute spricht Richard von Weizsäcker um 20 Uhr im Studio der Berliner Akademie der Künste mit Christoph Hein über sein Buch .

Hans-Peter Kunisch

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