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Kultur: Der Bademantel der Geschichte

Castorfs Werk und Teufels Beitrag: „Der Meister und Margarita“ nach dem Roman von Michail Bulgakow, jetzt an der Berliner Volksbühne.

Kennen Sie Speckenbach? Nein? Jan Speckenbach ist derzeit Berlins auffälligster Theater-Regisseur: Er dreht die Live-Videos für Frank Castorfs vielstündige Russenabende an der Volksbühne. Es scheint keineswegs übertrieben, wenn man feststellt – Castorf lässt sich ohne elektronische Spiegelung und Brechung nicht mehr auf die Bühne ein.

Theater, das sich vor und hinter der Kamera versteckt; Theater, das sich im splendiden Schmollwinkel verkriecht; Theater, das sich in den überkommenen Kulissen nicht mehr wiederfindet und nach neuen Spielzeugen greift: Wenn man sich Sorgen macht, wohin der Video-Wahn der Volksbühne führen soll, könnte man vielleicht an Bob Dylan denken. An jenen skandalisierten Moment in den sechziger Jahren, als der Folksänger seine Gitarre an einen Verstärker anschloss. Warum er das damals getan hat, dafür hat es im Grunde auch nie einer Erklärung bedurft. Warum einer Suppendosen malt oder Fettecken ausschmiert. Wie oft wurde der „Tod der Malerei“ verkündet, als neue, fremde Techniken aufkamen. Beim Theater gibt es vergleichbare Tendenzen. Wenn von seinem Tod die Rede ist, lugt ein neues Leben um die Ecke. Things happen; and the show must go on. Und Depression war schon immer ein starker Motor.

Castorf, getrieben von Erfolg und Zwang seiner Volksbühne, praktiziert immer neue Strategien der Verweigerung, einem Rockstar nicht unähnlich. Am Wochenende ist „Der Meister und Margarita“ nach dem Roman von Michail Bulgakow in Berlin angekommen. Die Premiere bei den Wiener Festwochen (Tagesspiegel vom 16. Juni) brachte die für Castorf typische Mischung von Chaos, Formsuche und Frühgeburt. Nun wirkt das Werk – auf viereinhalb Stunden gekürzt und festgezurrt – auf seltsame Weise fertig. Denn inzwischen hat man den „Idiot“ gesehen, das neuere und noch einmal radikalere Werk aus dem Volksbühnen-Videoverleih (Tagesspiegel vom 17. Oktober). Die produktive Verwirrung scheint perfekt.

Man muss seine Sinne sortieren. Castorfs Festungsbaumeister Bert Neumann hat die Bühne für „Meister und Margarita“ zurückgebaut. Die „Neustadt“, wo „Der Idiot“ wohnt, lagert mit all ihren Häuschen und Läden bis Februar im Magazin. Bulgakow spielt wieder in der Altstadt, Zuschauer und Schauspieler sind auf ihren angestammten Platz zurückgekehrt. Henry Hübchen gibt mit Cowboy-Hut den (stalinistischen) Satan und singt „Sympathy for the Devil“ wie ein Karaoke-König in der Theaterkantine, Martin Wuttke stülpt wieder das Nervenkostüm des (russischen) Schriftstellers nach außen, und Kathrin Angerer ist Margarita, die Schöne mit der Berliner Klappe und diesem Augenaufschlag, der schärfer ist als ihre weißen Stiefelspitzen. Alle, fast alle wieder im Glashaus: Milan Peschel, Joachim Tomaschewsky, Kurt Naumann, der Musiker Sir Henry und Bernhard Schütz, der für den erkrankten Klaus Mertens eingesprungen ist. Und sie lassen den Teufel, der da durch die Moskauer Weltgeschichte spukt, einen guten Mann sein.

Religion, Ideologie als Religionsersatz: das alte Thema. Die Frage ist, warum von dieser Roman-Adaption eine so heftige Mattigkeit ausgeht. Warum die großen und die letzten Dinge sich besser mit Dostojewski als mit Bulgakow verhandeln. Wahrscheinlich liegt das Problem in der Fantastik des „Meister“-Romans. Zeitsprünge durch Jahrtausende, Ortswechsel zwischen Jerusalem und der Sowjetunion und die großen Bulgakowschen Zauberszenen im satanischen Varieté – da produziert der exzessive Kameraeinsatz plötzlich Illustratives.

Da kommt etwas durch die Hintertür der Video-Wand, von dem sich Castorf eigentlich verabschieden wollte. Illusionstheater! Während Speckenbachs Kameraspiel bei Dostojewski die Einheit von Raum und Zeit und Handlung zersprengt und auffächert, scheint das Video zu kapitulieren vor der filmischen Struktur, die sich durch das Teufelsbuch von Bulgakow zieht. (Goethes „Faust“, der zweite Teil zumal, stellt das Theater vor das gleiche Dilemma, die Walpurgisnächte mit Mephisto sind ja nichts anderes als gigantische Video-Clips. Oder Lesestücke.)

Eines langen Abends Reise in die Nacht. Man muss sich treiben lassen. Die Castorf-Family, was zeigt sie anderes als das Leben selbst! Den ganzen Blödsinn und Wahnsinn und Eigensinn, wenn ein paar Menschen (zu) viel Lebenszeit miteinander verbringen, im Theater, im Büro, in der Kneipe. Das spielt sich so weg – die Schaffenskrisen, die Liebesgeschichten, die Sucht –, und gerade bei dem einzigartigen Volksbühnen-Ensemble sieht man doch, wie das jede Sekunde gestemmt, behauptet sein will. Die Normalität, die Aufschwünge. Die Riten der ewigen Wiederholung. Und wie sich das wiederholt!

Sie fliegen im Video durch die Welt, sie brennen Moskaus Hochhäuser nieder im Modell, sie beschmieren sich mit Schlamm, sie duschen, sie brutzeln Bouletten, sie tanzen und foltern. Sie kommen in Bademänteln und Plastiklatschen angeschlurft – und behaupten Weltgeschichte! Den Gegenbeweis anzutreten fällt trotzdem schwer.

Rüdiger Schaper

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