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Kultur: Der Ball rollt falsch

Heute spielt Deutschland gegen die Niederlande. Und Hollands berühmtester Mittelstürmer plädiert für neue Regeln / Von Marco van Basten

Mit dem Fußball läuft etwas völlig verkehrt. Die Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea hat bewiesen, dass der Fußball nicht mit der Zeit gegangen ist. Niemals zuvor hat das Spiel so unter Regeln gelitten, die veraltet sind. Das Spiel muss verteidigt werden. Gegen Missbrauch und hooliganistische Gewalt, aber auch gegen die vielen Fehler der Schiedsrichter.

Jedes Unternehmen strebt nach der Verbesserung seines Produkts – mit Ausnahme des Fußballs. Wenn wir diesen Sport einmal als Produkt betrachten, dann muss man dafür sorgen, dass er attraktiv bleibt, also vital, spannend und ehrlich ist. Das ist nicht mehr immer so. Dewegen hoffe ich, dass ehemalige Akteure, Trainer und Spieler von heute die internationalen Verbände, die Uefa in Europa und den Weltverband Fifa, zumindest zum Nachdenken anregen.

Der moderne Fußball ist längst reif für technische Hilfsmittel. Von hundert Entscheidungen, die ein Schiedsrichter im Spiel trifft, sind wahrscheinlich 85 korrekt. Bei Zweifelsfällen oder Irrtümern aber muss der Schiedsrichter unterstützt werden.

Da heute alles von Kameras festgehalten werden kann, muss man auch direkt nach Spielende grobe Regelverstöße ahnden können. Wenn Spieler wissen, dass sie noch nachträglich Gelb oder Rot bekommen können, werden sie sich anders verhalten. Umgekehrt könnten gelbe und rote Karten nach dem Spiel auch wieder aufgehoben werden. Folge: Das Spiel wird fairer und schöner, was Uefa und Fifa seit Jahren erfolglos anstreben.

Abseitsstellungen sind bei der Schnelligkeit des Spiels mit bloßem Auge oft nicht wahrzunehmen. Bei großen Wettkämpfen sind bis zu 25 Kameras im Stadion. Deshalb sollten in einem „Regieraum“ drei unabhängige Personen (Schiedsrichter) sitzen, die per Replay strittige Momente überprüfen, Bilder stoppen, eine Entscheidung treffen und dann den Schiedrichter auf dem Feld mit Hilfe eines „Knopfs im Ohr“ informieren. Ihre Entscheidung muss einstimmig sein und kann den Schiedsrichter überstimmen. Der Vorteil ist, dass Publikum und Spieler auf einem Bildschirm erkennen, dass die Entscheidung richtig ist, wodurch weder Unfrieden noch Frustration entstehen.

War es ein Elfmeter, war es ein Freistoß? Im Zweifelsfall muss auch hier der Schiedsrichter überstimmt werden können. Die Anzahl von „Schwalben“ und falschen Entscheidungen ist enorm. Aus dem Regieraum heraus wird das erlösende Wort gesprochen. Zudem: Im Tor sollte man Minikameras installieren, die anzeigen, ob ein Ball über der Torlinie war – wie im Eishockey.

Ich bin ein Verfechter des männlichen und harten Fußballs, aber auch des fairen. Ellbogenstöße und das Zerren am Trikot werden Usus. die Grenze zwischen hartem und brutalem Spiel verwischt. Auch dieser Unterschied ist für einen Schiedsrichter, der in Sekundenbruchteilen entscheiden muss, immer schwerer auszumachen. Der Einsatz von Fernsehbildern wird daher das Fairplay fördern.

Verliert der Fußball aber nicht sein Tempo, wenn das Spiel zwei bis zehnmal so oft für 15 bis 30 Sekunden unterbrochen wird? Meiner Ansicht nach nicht. Wieviel Zeit kostet ein Einwurf (10bis 20 Sekunden), ein Abschlag (30 bis 60 Sekunden) oder ein Freistoß (30 bis 90 Sekunden). Der Vorteil (Ehrlichkeit) wiegt weit schwerer als der Nachteil (die vorübergehende Unterbrechung). Und: Im Zweifel wird der Angriff fortgesetzt, erst dann ein Tor eventuell nicht gegeben werden. Zurzeit aber werden spektakuläre Angriffe oft zu Unrecht abgepfiffen, weil der Schiedsrichter-Assistent – der dasteht, um seine Flagge zu gebrauchen, also wird er sie in der Regel auch heben – glaubt, dass es Abseits ist. Die Schönheit des Angriffsspiels wird im Keim erstickt – und das ist eine Todsünde.

Sollte es Widerstand gegen den Einsatz technischer Hilfsmittel geben, dann muss man den Einsatz von zwei oder drei Schiedsrichtern prüfen. Im Basketball hat man drei Schiedsrichter für zehn statt 22 Spieler auf viel kleinerem Raum.

Unverständlich genug, dass die Spielregeln in den letzten 50 Jahren nicht oder kaum verändert wurden. Bei Sportarten wie Basketball oder Hockey hat man die Regeln laufend den Erfordernissen der Zeit angepasst. Im Fußball aber herrscht Konservativismus, obwohl das Spiel viel schneller geworden und ohne die Beteiligung des Fernsehens nicht mehr denkbar ist .

Ich plädiere für die Einführung einer reinen Spielzeit von zwei mal 35 Minuten. Im Regieraum misst man die Zeit. Auf der Stadionuhr kann jeder sehen, wann die Zeit angehalten wird. Merkwürdig, dass das (wie beim Basketball) nicht längst geschieht.

Jeder Trainer hat ein Mal pro Spiel das Recht auf eine Auszeit. In dieser einen Minute, die das Spiel unterbrochen wird, steigt die Spannung. Das Publikum denkt: Was geschieht nun? Eine andere Taktik? Ein Wechsel? Voller Erwartung wird das Spiel wieder aufgenommen.

Es muss künftig ein System geben, in dem die Spieler persönliche Fehlerpunkte bekommen: wie im Basketball. Bei vier Übertretungen muss der Spieler das Feld verlassen. Der Trainer darf dabei zwei Spieler ersetzen, wenn ein dritter die maximale Anzahl Fehlerpunkte kassiert hat, muss die Mannschaft mit zehn Spielern auskommen.

Die gelbe Karte, wie jetzt praktiziert, verfehlt dagegen oft ihr Ziel. In einem Turnier oder laufenden Wettbewerb profitiert davon der nächste Gegner – das ist unsinnig. Eine gelbe Karte könnte zum Beispiel eine Zeitstrafe von zehn Minuten bedeuten. Danach darf der Spieler wieder aufs Feld. Gelbe Karten haben keine Sperre mehr zur Folge, sie zählen nicht über das Spiel hinaus.

Eine rote Karte bleibt eine rote Karte – also runter vom Platz. Aber davon darf der künftige Gegner nicht profitieren. Gesperrt werden sollte nur nach einem grob gewalttätigen Foul.

Jeder kennt die folgende Situation: Ein Spieler, der allein auf das Tor zustürmt und im Strafraum gefoult wird, bekommt einen Elfmeter, sein Gegner Rot. Das ist Unsinn – wie es Unsinn ist, dass ein Verteidiger, der mit der Hand ein Tor verhindert, meist Rot erhält. Wenn ein Foul im Strafraum nicht grob gewalttätig ist, dann reicht der Elfmeter und vielleicht eine gelbe Karte. Nur brutale Fouls verdienen neben dem Strafstoß auch eine rote Karte.

Oder: Ein Spieler, der allein auf das Tor stürmt, wird außerhalb des Strafraums gefoult. Der Verteidiger bekommt heute Rot, aber der Angreifer nur einen Freistoß, der höchst selten zum Tor führt. Mein Vorschlag: Der Spieler, der die Regel verletzt, bekommt einen Strafpunkt oder Gelb, und das Opfer erhält ein so genanntes shoot-out: Aus 30 Meter Entfernung startet der Angreifer aufs Tor, darf schießen oder gegen den Torhüter dribbeln, muss aber damit rechnen, dass er überholt werden kann. Denn mit dem Pfiff des Schiedsrichters dürfen die Verteidiger, die auf der Mittellinie stehen, versuchen, das Tor zu verhindern. Wird der Ball durch den Torwart oder einen Spieler gestoppt, dann geht das Spiel normal weiter, genau so wie bei einem abgewehrten Elfmeter.

Was gegenwärtig bei Eckbällen geschieht, ist unglaublich. Das gleicht Judo oder Rugby. Bei jedem Eckstoß könnte man heute fünf Elfmeter pfeifen, doch die Praxis zeigt, dass meistens der Angreifer (der sich gegen Zerren, Halten und Blockieren wehrt) mit einem Freistoß bestraft wird. Schiedsrichter gehen hier zu 95 Prozent auf Nummer sicher (also kein Elfmeter), während das Verhältnis fifty-fifty sein müsste.

Ich weiß nicht auf Anhieb, welche neuen Regeln bei Eckbällen gelten sollten. Aber eine Reform ist überfällig.

Das Abseits: Gehen wir vorläufig von der Beibehaltung der Abseits-Regel aus. Oft ist nicht zu erkennen, ob ein Angreifer im Augenblick der Ballabgabe abseits steht, und man merkt, dass die Linienrichter defensiv die Flagge heben, weil sie Angst haben, einen Fehler zu machen. Das ist natürlich nicht beabsichtigt, denn im Zweifel soll für den Angreifer entschieden werden. In der Praxis funktioniert das nicht (und so wurden Spiele bei der letzten WM fehlentschieden). Den Linienrichtern müsste eingetrichtert werden, dass im Zweifelsfall die Fahne unten bleibt. Auch das Nichtheben der Fahne ist eine Entscheidung!

Abseits sollte eine Sache der Schiedsrichter im Regieraum sein. Nur bei völlig klaren Situationen darf der Schiedsrichter abpfeifen. Im Zweifelsfall wird weitergespielt und das Urteil der Schiedsrichter im Regieraum abgewartet. Dadurch, dass die Bilder auf den großen Bildschirmen im Stadion zu sehen sind – und zuhause im Wohnzimmer – gibt es keine späteren Diskussionen mehr.

Neue internationale Termin-Absprachen sind notwendig. Vor einer Weltmeisterschaft muss eine Nationalmannschaft sechs Wochen zusammen sein können, um optimale Leistung erbringen zu können. Es gab Länder, die kaum 14 Tage Zeit hatten, sich auf die jüngste Weltmeisterschaft vorzubereiten. Der internationale Spielkalender muss daher in einem WM-Jahr angepasst werden, das kommt der Qualität des Turniers zugute. Jede Nation sollte ihre höchste Liga auf 16 Clubs beschränken, so dass Spitzenspieler mehr regenerieren können für Länderspiele und europäische Wettbewerbe.

Club A hat 100 Millionen zur Verfügung, Club B 900 Millionen. Wenn der eine Verein 18 Spieler und der andere 50 Spieler hat, ist das eine Form von Wettbewerbsverzerrung. Echtem Wettbewerb ist mit geringen Kräfteunterschieden geholfen. Uefa und Fifa müssten die Vereine zu einer maximalen Anzahl von Vertragsspielern verpflichten. Ich sage: 24 sind genug. Bei einer Verletzungswelle nimmt man eben Jugendspieler hinzu.

Ich hoffe jetzt auf eine breite Diskussion. Fußball muss wieder fairer, ehrlicher und vor allem spektakulärer werden. Ich würde es bedauern, wenn keiner meiner Vorschläge übernommen würde. Aber ich rechne damit, denn Uefa und Fifa sind verstaubte Institutionen. Wenn ich selbst irgendwann einmal Trainer werden sollte und meine Mannschaft betrogen wird, werde ich meinen Mund nicht halten. Und bis dahin habe ich zumindest gesagt, dass es anders werden muss.

Marco van Basten (38), bis 1993 Mittelstürmer bei Ajax Amsterdam und dann beim AC Mailand, ist 58-facher holländischer Nationalspieler, war zweimal Weltfußballer des Jahres. Sein hier gekürzt wiedergegebener Text erschien zuerst in der literarischen Fußballzeitschrift „Hard Gras“ in Amsterdam. Übersetzung aus dem Niederländischen von Rolf Brockschmidt.

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