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Kultur: Der beißt nicht, der kann nur spielen

Uraufführung bei der Ruhrtriennale: Alain Platels „Wolf“ zeigt in Duisburg, wie Mozart auf den Hund kommt

Die Ruhrtriennale wird ein Festival der Uraufführungen, hat Gerard Mortier jüngst im Tagesspiegel-Interview erklärt – oder sie wird gar nicht. Wenn es nicht gelänge, mit Experimenten die bestehende Angebotspalette zu erweitern und das Publikum in neue Stücke an neue Orten zu locken, solle man das Projekt lieber wieder vergessen: Die 40 Millionen Euro, die für den Dreijahreszeitraum dieser Documenta der darstellenden Künste zur Verfügung stehen, rechtfertigten sich nur, wenn für das Ruhrgebiet am Ende mehr hängen bleibe als ein paar Kritiken in überregionalen Zeitungen. Darum liegen Gerard Mortier die so genannten „Kreationen“ besonders am Herzen, jene Auftragswerke, in denen klassisches Musikmaterial von Verdi oder Mozart auf neue Bildwelten stößt.

So gern sich die Lokalpolitik beim Eröffnungs-Gastspiel von Patrice Chéreaus Pariser „Phèdre“-Inszenierung auch im Glanz des Kulturevents sonnte – der eigentliche Startschuss zur Sommerspielzeit 2003 fiel am Donnerstag im Landschaftspark Duisburg-Nord. Alain Platel, der gefeierte flämische Choreograf, Heilpädagoge und Regisseur, sollte in der Kraftzentrale des einstigen Thyssen-Werkes erklären, „wie Mozart auf den Hund kam“. Mortier hatte seinen Landsmann, der sich – angewidert vom Starrummel um seine Person – eigentlich von der Bühne zurückziehen wollte, überredet, mit seinen Tänzern von der Compagnie Les Ballets C. de la B. doch noch einmal die Musik des ewigen Wolferl unvoreingenommen anzuhören. Dass Platel sein Stück „Wolf“ betitelte, macht deutlich, dass es nicht ums Marzipankugel-Wunderkind gehen würde. Dass er verkündete, ein Hunderudel auf die Bühne zu bringen, ließ die Weite seiner Assoziationsräume erahnen. Um es offen zu sagen: Für jeden, dem die grandiose Musik dieses frechsten und feinfühligsten Komponisten aller Zeiten am Herzen liegt, birgt diese pausenlose, zweieinhalbstündige Aufführung Martern aller Arten. Für jeden, der glaubt, dass Mozarts Musik sich um so weiter öffnet, je intensiver man ihr zuhört, ist dieses Spektakel eine Tortur.

Der Abend beginnt mit einem Song der Schmachtfetzendiva Celine Dion, und es wäre nicht die schlechteste Idee gewesen, bei dieser Klangfarbe zu bleiben. Platels Tänzer sind aber großartige Körperartisten, brachiale Persönlichkeiten, die sich rücksichtslos entäußern, schreien und toben, wüten und zucken, über Geländer hechten und gegen Wände anrennen. Sie ergreifen Besitz von der verrotteten Einkaufspassage, die ihnen Bühnenbildner Bert Neumann gebaut hat, sie brauchen die ganze breite Szene für sich, scheinen sich fast noch auf die Zuschauertribüne katapultieren zu wollen – und machen Mozart dabei gründlich platt. Nicht nur, dass man wenig hört vom Klangforum Wien, das im Obergeschoss hinter herabgelassenen Schutzgittern seine von Sylvain Cambreling verfremdeten Mozart-Arrangements spielt, man sieht auch nichts von dieser doch so bildhaften Musik. Weil die Tänzer zu keinem Zeitpunkt ihre Bewegungen aus den Tönen entwickeln, ja noch nicht einmal lose in Verbindung treten mit dem, was da zu hören ist.

Natürlich kann auch ein Kontrapunkt erhellend sein. Genau aus diesem Kontrast schöpfte Platels Produktion „Iets op Bach“ seine Kraft, wenn zur Barockmusik des Thomaskantors Penner, Kleinkinder und Verwundete ihre chaotischen Bahnen zogen. Bei „Wolf“ in Duisburg aber bevölkern nur eitle Selbstdarsteller das Kaufcenter, und jeder von ihnen darf in einem Solo vorführen, was er kann. Dabei dudelt die Musik (von Marina Comparato, Ingela Bohlin und Aleksandra Zamojska traumschön gesungen), als hätte jemand vergessen, das Radio abzuschalten.

Um zu verdeutlichen, dass Mozart den allermeisten am Allerwertesten vorbei geht, ist das sehr viel Aufwand. Allein diese Erkenntnis aber vermittelt der Abend, bevor er in peinlichem Kitsch absäuft: Plötzlich hören doch alle ganz andächtig der Sängerin zu – nur ein Taubstummer macht (aus erklärlichen Gründen) weiterhin Krach. Wie politisch korrekt verhalten sich da die anderen, zeigen uns, wie man umgeht mit jenen, die das Zuhören verlernt haben. Sanft führen die Sängerinnen die Hand des Behinderten an Kehle und Brustkorb, auf dass er spüre, wo die sinngetränkte Luft vibriert. Später „singen“ dann alle gemeinsam eine „Zauberflöten“-Arie in Gebärdensprache.

Zum Dank wird die ganze Truppe aus dem Off erschossen, wälzt sich tonlos schreiend in slow motion von der Bühne. Dann darf das Solistinnentrio noch ein „Addio“ flöten, während ihnen das dramaturgisch absolut entbehrliche Hunderudel um die Füße wuselt. Die beißen nämlich nicht, die wollen nur spielen. Leider.

Platels „Wolf“ ist am 4., 5., 7. und 8. Juni an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zu sehen.

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