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Kultur: Der bleiche Tod

Sie sind 20 Jahre alt oder 22 oder 25. Sie gehen nach Istanbul, um Geld zu verdienen, 300 Euro im Monat. Mit Sandstrahlern bearbeiten sie Jeans, damit die das schicke aufgehellte, abgewetzte Design bekommen. Was sie nicht wissen: Die Arbeit bringt sie um. Sie zerstört die Lungen

Magere Truthähne mit zerfledderten Federn picken in der kargen Erde herum. Es ist der Dorfplatz von Ambarliköy, einem verlassenen Nest in einer kriegsgeplagten Ecke von Südostanatolien. Ein paar junge Männer hocken auf niedrigen Schemeln in der Wintersonne und sehen dem Federvieh teilnahmslos zu. Gutaussehende Burschen sind sie, mit den kühnen Adlernasen und hohen Wangenknochen der Kurden, für ihr Alter von etwa Mitte 20 aber seltsam ruhig. Früher hätten sie hier Fußball gespielt, erzählen drei Brüder aus einer Familie namens Tektas, doch damit ist es vorbei und zwar für immer. Hasan hustet Blut, sein Bruder Ramazan keucht schon beim Sprechen; Alican, mit 22 Jahren der jüngste, schwitzt bei jedem Schritt.

Eine ärztliche Diagnose hat bisher nur Ramazan, der älteste, und die bestätigt, was alle drei Brüder längst ahnen. Die Lungenkrankheit Silikose ist schließlich schon bei mehr als 50 jungen Männern im Dorf festgestellt worden. Die ersten sind schon gestorben.

Für einen Jeanslook. „Vintage“, „antique“, „distressed“ oder „used“ heißt der im Fachjargon. Es geht um die Abriebstellen an Knien, Oberschenkeln und Hosenboden. Auch Designer haben diese Bleichungen für ihre Kollektionen entdeckt.

Von der Straße aus ist die Kellerwerkstatt im Istanbuler Außenbezirk Büyükcekmece nicht zu erkennen. Drinnen, unter der Erde, knattern die Kompressoren der Sandstrahler, das fahle Licht der Neonröhren lässt die Gesichter der jugendlichen Arbeiter bleich erscheinen. Sandstaub hängt in der Luft und knirscht unter den Füßen. Meterhoch liegen dunkelblaue Jeanshosen zu Bergen aufgehäuft mitten im Raum; auf einem Tisch in einer Ecke ist eine fertige Jeans zur Inspektion ausgelegt, die Oberschenkel hell abgewetzt. Die Alterung vollzieht sich in sechs rechteckigen Vertiefungen in der Wand, in denen die Jeans von den Arbeitern ausgelegt und mit dem Sandstrahler bearbeitet werden – einem dicken Schlauch, aus dem der Sand mit Hochdruck geschossen wird.

„Wenn du in den Strahl reinläufst, bist du tot“, warnt einer der jungen Männer. Dennoch trägt keiner von ihnen mehr als Hose, T-Shirt und Arbeitshandschuhe, mit denen sie die Jeans bei der Arbeit festhalten und zurechtrücken. Von der Jeanshüfte herunter zum Knie leiten sie den Sandstrahl, dann wieder hinauf – und fertig ist der „vintage look“, die modisch bleichen Jeans mit dem abgetragenen Aussehen.

„Rodeo“ heißen diese Sandstrahler in der Branche. Eigentlich sollten sie nur in geschlossenen Kabinen eingesetzt werden, in denen der Arbeiter über einen Belüftungsschlauch und eine Atemschutzmaske mit Frischluft versorgt wird. Die Jungen am Strahler tragen aber nicht mehr als einen billigen Mundschutz gegen den Sand, der von den Jeans hochspritzt, durch den Raum wirbelt, alle Oberflächen bedeckt und aus jeder Ritze quillt.

„Gott hilf uns“, klagt Xanim Tektas und wringt den Zipfel ihres weißen Kopftuches. Einen Krug mit Ayran, dem landesüblichen Joghurtgetränk, hat sie den jungen Männern auf dem Dorfplatz gebracht. Mehr kann sie für ihre todkranken Söhne nicht tun. Nicht einmal das Fahrgeld zum nächsten Krankenhaus in Diyarbakir, knapp 80 Kilometer entfernt, kann die Familie aufbringen. Die verfluchte Armut, sagt die Mutter von neun Kindern, die mit 58 Jahren eine Greisin ist. „Glauben Sie denn, wir würden unsere Kinder in die Fremde schicken, wenn es anders ginge?“ Doch hier in der Gegend wird seit 25 Jahren gekämpft zwischen der PKK und der türkischen Armee, die Väter sind zur staatlichen Kurdenmiliz eingezogen worden oder von den Rebellen, das Vieh ist eingegangen, als den Bauern die Nutzung der Bergweiden verboten wurde. Wer kann, der geht nach Istanbul, um Arbeit zu suchen und die Familie im Dorf zu ernähren. Glück hätten sie gehabt, glaubten die Einwohner von Ambarliköy deshalb, als einige Jungen aus dem Dorf vor zehn Jahren gutbezahlte Arbeit in der Textilbranche in Istanbul fanden. „Die schrieben Briefe aus Istanbul, da gebe es Arbeit und Brot“, erinnert sich Ramazan Tektas. „Da sind wir der Reihe nach alle auch dahin gegangen.“ Nun kommen sie alle wieder zurück, zum Sterben.

„Nein, leider, diese Krankheit ist nicht heilbar. Leider“, sagt der Arzt, der die todkranken jungen Männer von Ambarliköy betreut. Mit einem geliehenen Röntgengerät und ein paar freiwilligen Helfern fährt der Lungenspezialist nach Ambarliköy wann er kann, um die jüngsten Rückkehrer zu untersuchen und den Kranken beizustehen. Seinen Namen will er nicht genannt wissen, weil er an einem staatlichen Krankenhaus arbeitet und um seinen Job fürchtet. „Macht keinen Wind darum, denkt an unsere Textilexporte“, soll das Arbeitsministerium einen Arzt in einer anderen Stadt gewarnt haben, der sich für die Aufklärung über die Gefahren des Rodeo einsetzte. Mehr als zehn Milliarden Euro im Jahr sind die Exporte der türkischen Textilindustrie wert.

Silikose ist eine Berufskrankheit, die der Medizin bis vor kurzem nur von Bergarbeitern bekannt war, sagt der Arzt. Aus der Türkei weiß die Wissenschaft erst seit fünf oder sechs Jahren, dass daran auch Textilarbeiter erkranken, die in der Sandbestrahlung von Jeans arbeiten. „Beim Bestrahlen der Jeans spalten sich die Sandkörner unter dem Hochdruck der Kompressoren“, erklärt der Arzt. „Dabei tritt Silizium aus, reagiert mit dem Sauerstoff und verwandelt sich in Quarz.“ Über die Atemwege gelangt das Mineral in die Lungen, die damit nicht fertig werden und den Körper nicht mehr mit Sauerstoff versorgen können. Keuchen, Gewichtsabnahme, Husten und Schwäche sind die Symptome, das Ende ist der Tod durch Ersticken.

Mit geschlossenen Augen könnte er seine Werkstatt im Istanbuler Stadtteil Bahcelievler noch finden, sagt Mehmet Oruc, auch wenn er die Adresse nie gewusst hat. Jahre seines kurzen Lebens hat der 20-Jährige aus Ambarliköy, ein Nachbar und Jugendfreund der Gebrüder Tektas, in dem Kellerloch in Bahcelievler verbracht – Tag und Nacht, seit er mit 13 Jahren zur Arbeit nach Istanbul geschickt wurde. Vorne in der Werkstatt wurde zwölf Stunden am Tag gearbeitet, hinten in einem Bretterverschlag aßen und schliefen die Arbeiter – außer türkischen Kurden auch Arbeitsmigranten aus Rumänien und Aserbaidschan. „Wir haben immer in diesem Staub gelebt, wir sind dort nie raus“, sagt Mehmet Oruc. „Wo hätte ich denn hin sollen, ich hatte keinen anderen Schlafplatz, ich kannte in der ganzen Stadt niemanden, nur die anderen Arbeiter in der Werkstatt. Und schließlich war ich ja da, um Geld und Brot zu verdienen, und nicht zum Spaß.“ 450 Lira im Monat betrug sein Lohn, das waren zum damaligen Kurs mehr als 300 Euro und gutes Geld für einen ungelernten Jungen aus der Südosttürkei. Kranken- oder Sozialversicherung gab es allerdings ebenso wenig wie Arbeitssicherheit. „Wenn die Polizei vorbeikam, gab der Chef ihnen einen Schein oder zwei.“

Ein Junge sei in der Hoffnung auf eine Lungentransplantation zu ihm gekommen, erinnert sich Zeki Kilicaslan, Professor für Lungenerkrankungen an der Universität Istanbul. „Das ist die einzige Hoffnung in fortgeschrittenen Fällen. Aber wir haben ihn zum Sterben in sein Dorf zurückschicken müssen.“ Die Operation ist in der Türkei nicht möglich, eine Transplantation im Ausland für einen unversicherten Habenichts aus dem Südosten nicht einmal denkbar. „Er war 22 Jahre alt“, sagt Kilicaslan. Und das sei erst der Anfang: Bis zu 10 000 Jungen und Männer haben in den letzten 20 Jahren mit den tödlichen Sandstrahlern gearbeitet, zitiert er Zahlen des Arbeitsministeriums. Ein paar Monate am Sandstrahler reichen bereits aus, um tödlich zu erkranken. Hunderte Arbeiter sind bereits diagnostiziert, obwohl viele Ärzte und Krankenhäuser noch immer nichts von der Krankheit wissen und fälschlich auf Tuberkulose tippen. Dutzende junge Männer sind schon daran gestorben – fast alle zwischen 15 und 25 Jahre alt.

„Dass 20-Jährige an einer Berufskrankheit sterben, das ist eine Katastrophe und eine Schande für die Türkei“, sagt der Professor, der sich leidenschaftlich für ein Verbot der Sandstrahler und für die Rechte der geschädigten Arbeiter einsetzt. Landesweit müssten alle jetzigen und früheren Beschäftigten dieser Werkstätten vom Staat über das Fernsehen informiert und zu kostenlosen Untersuchungen eingeladen werden, fordert Kilicaslan – bisher vergeblich. Er selbst bietet solche Untersuchungen schon länger an und kann entsetzliche Geschichten erzählen – von kranken Arbeitern, deren vermeintlich gesunde Brüder dem Tod schon näher sind als sie selbst, von Vätern, deren Söhne sich beim Röntgen als unheilbar krank erweisen. Trotzdem sei die Früherkennung wichtig, sagt der Professor, weil die Krankheit zwar nicht zu heilen, im frühen Stadium aber zumindest aufzuhalten sei. Wer beizeiten diagnostiziert wird, hat eine gewisse Überlebenschance, wenn er geschont und gut behandelt wird.

„Natürlich weiß ich das“, sagt Osman Demir. „Mir fällt das Atmen schwer, mir fällt das Arbeiten schwer. Ich weiß, dass ich mich nicht anstrengen soll, ich weiß, dass ich Staub unbedingt meiden soll. Aber ich habe eine Frau und eine dreieinhalbjährige Tochter, für die ich sorgen muss, und deshalb muss ich arbeiten.“ Sieben Jahre lang hat Demir ungeschützt und unversichert in den Istanbuler Rodeo-Werkstätten gearbeitet, seit er 13 Jahre alt war – bis vor zwei Jahren die ersten seiner Freunde starben: Erhan hieß einer von ihnen, Kenan Temiz ein anderer. Da hat er Angst bekommen und aufgehört.

Jetzt ist Osman Demir 22 Jahre alt, keucht beim Sprechen und arbeitet auf dem Bau – in Istanbul, in Ankara, wo immer er gerade etwas findet. In seinem Heimatdorf Taslicay im südostanatolischen Kreis Karliova kann ihm keiner helfen, dort gibt es kaum einen Haushalt ohne Silikose-Kranken – über 300 diagnostizierte Fälle. Ein engagierter Arzt von einem Krankenhaus in der benachbarten Provinz Erzurum kümmert sich um sie, so gut es geht. Viel mehr als die Diagnose und der gute Rat, sich zu schonen, bleibt freilich nicht.

„Jeans werden aufgehellt, unser Leben wird verdunkelt“, heißt es auf den Plakaten der Demonstranten vor der Justizbehörde im Istanbuler Bezirk Bakirköy, „Schluss mit dem Sandstrahlen“ und „Kapitalismus tötet“. Rund 150 Textilarbeiter und ihre Unterstützer sind zusammengekommen, um Strafanzeige zu stellen – gegen das Arbeitsministerium, das die tödlichen Praktiken in der Textilbranche toleriert, gegen die Bezirksverwaltungen, deren Mitarbeiter gegen Schmiergelder beide Augen zudrücken, gegen die kleinen Rodeo-Klitschen in Istanbul, die ihre Arbeiter schwarz beschäftigen und unversichert verrecken lassen, und gegen ihre Auftraggeber bei den großen Textilfirmen, die von allem zumindest gewusst haben müssen. Davon ist zumindest Engin Bodur überzeugt, der Generalsekretär der winzigen Arbeitersolidaritätspartei, der bei der Mini-Demonstration vor dem Justizgebäude das Megaphon schwingt. „Alle großen Firmen, die in der Türkei Jeans herstellen lassen, haben zumindest zeitweise bei diesen Zulieferern produzieren lassen“, sagt Bodur – schon deswegen, weil es für die künstliche Alterung von Jeans bis vor wenigen Jahren keine andere Technik gegeben habe in der Türkei.

Einige große Markennamen, türkische wie internationale, werden von den geschädigten Arbeitern immer wieder genannt, sagt auch die Rechtsanwältin Özlem Ayata, die sich für eine Sammelklage zur Verfügung gestellt hat – eine Klage, deren Ausgang viele der Kläger nicht erleben werden. Für Beweise reichen diese Aussagen zwar nicht. „Keine von den Firmen, die hier produzieren, hat ein reines Gewissen“, glaubt Engin Bodur dennoch. „Unser Ziel ist es, sie gerichtlich dazu zu zwingen, ihre Bücher zu öffnen und zu beweisen, wie und wo sie diese Arbeiten haben erledigen lassen.“

Um etwa die Hälfte ist das Sandstrahlen seit dem Tod der ersten Arbeiter vor ein paar Jahren zurückgegangen, schätzt das Solidaritätskomitee – ersetzt durch neuere Methoden wie Lasertechnik. Hunderte Jugendliche schuften aber weiterhin in Kellerlöchern ohne Licht und Luft mit Sandstrahlern, weil das billiger ist. Zum Boykott will das Komitee nicht aufrufen, weil der die Falschen treffen könnte, wohl aber zum Druck auf die türkische Regierung.

„Das Sandstrahlen von Jeans tötet junge Leute“, stellten Arbeitsmediziner von Universitäten in Dänemark, Belgien und der Türkei in einer gemeinsamen Studie schon vor zwei Jahren unmissverständlich fest. „Im Prinzip ist die Lösung einfach“, fassen die Wissenschaftler zusammen: „Das Sandstrahlen von Jeans muss gestoppt werden.“ Doch die türkischen Behörden reagierten zu langsam, der graue Sektor sei auch nur schwer zu kontrollieren. Sicher gebe es vielerorts auf der Welt gefährliche und gesundheitsschädliche Produktionspraktiken, räumen die Mediziner ein. „Es ist aber besonders empörend zu sehen, dass arme junge Leute sterben, um reichen jungen Leuten zu ermöglichen, der Mode von künstlich abgetragenen Jeans zu folgen.“

Mustafa Kaleli hatte zwei Jahre lang in einem Sandstrahl-Betrieb gearbeitet, bevor er bei der Musterung zum Wehrdienst als Silikose-Kranker erkannt wurde. Er starb im Dezember in Istanbul mit 23 Jahren. Am selben Tag starb der 29-jährige Textilarbeiter Adem Incirli; sein Bruder Yusuf war der Krankheit schon 2004 im Alter von 20 Jahren erlegen.

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