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Kultur: Der „Blitz“ und die Moral

Dietmar Süß vergleicht die Auswirkungen der Bombardierungen aus der Luft auf das Verhalten der Menschen in Deutschland und England

Mit Jörg Friedrichs Untersuchung „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945“ aus dem Jahr 2002 wurden die alliierten Bombardements des Zweiten Weltkriegs neuerlich zur Diskussion gestellt. Es lag allzu nahe, in dieser Problematisierung lediglich eine subtile Form der Aufrechnung zu sehen. Deutsche als Opfer – das verbot sich auf dem Hintergrund der Verbrechen des NS-Regimes von vorneherein.

Doch so einfach liegen die Dinge eben nicht. Dietmar Süß, Jahrgang 1973 und unverdächtig, in die aus der alten Bundesrepublik herüberragenden Kontroversen einbezogen zu sein, beschäftigt sich seit Jahren mit dem europäischen Bombenkrieg. Mit dem 700-Seiten-Buch „Tod aus der Luft“ legt der Jenenser Historiker eine Paralleluntersuchung für Großbritannien und das Deutsche Reich vor – ein überaus ergiebiger Vergleich, weil die Frage nach der Legitimität des Bombenkriegs aus der Verengung auf Deutschland gelöst wird und die Auswirkungen der Bombardements auf die Zivilbevölkerung vorurteilslos aus der Perspektive der Betroffenen, eben der Opfer betrachtet werden. Es geht Süß nicht um „militärische Luftkriegsdoktrinen, operative Entscheidungsabläufe, die Geschichte der Waffentechnik oder der Luftwaffe“, sondern darum, „die unterschiedlichen Krisenlösungsstrategien und Formen der Vergesellschaftung im und durch den Krieg auszuloten“.

Es versteht sich, dass dabei kein mixtum compositum herauskommt, sondern ganz im Gegenteil die scharfe Unterscheidung der Verhältnisse in Demokratie und Diktatur. Gleichwohl gibt es eine Ebene der Vergleichbarkeit, und das ist die „Kriegsmoral“. Sie bildet sich im Verlauf des Krieges – und wird zugleich geschaffen, durch Propaganda in der Diktatur wie durch die scheinbar weiterhin freie, tatsächlich aber sorgfältig moderierte Meinungsäußerung der Medien in der Demokratie. Aber sie bildet, so oder so, ein konstitutives Element der Kriegsführung. Was unter dem NS-Regime als „Volksgemeinschaft“ zugleich verherrlicht wie gefordert wird, verdichtet sich im Britischen Königreich zum „People’s War“ als der gemeinsamen Anstrengung aller Bevölkerungsschichten, deren bewusst herausgestellter, vermeintlich klassenübergreifender Charakter zugleich als Versprechen für die politische Neuordnung nach dem Krieg verstanden wird.

Dietmar Süß geht es nicht um Zahlen, nicht um die Tonnage der Bombenabwürfe, nicht um die der Toten und Verwundeten, die er höchstens summarisch einfließen lässt. Er schaut vielmehr auf die Erfahrungen der Zivilbevölkerung unter der furchtbaren Bedrohung durch die feindlichen Flugzeuge. Dabei macht sich Süß die Mühe, von einer globalen Sicht abzurücken und in einzelne Städte und Gemeinden hineinzublicken. Denn dort, in den Kommunen, mussten die unmittelbaren Folgen der Bombardierungen bewältigt werden, mussten Trümmer beseitigt, Ausgebombte versorgt und Schutzräume geschaffen werden. Während England mit dem „Blitz“ von 1940/41 weithin unvorbereitet von den – wenn auch höchst unpräzisen – Angriffen der feindlichen Bomber getroffen wurde und entsprechend große Anstrengungen zur Aufrechterhaltung, ja überhaupt zur Schaffung der „Kriegsmoral“ unternahm, wurde das Deutsche Reich im „Area Bombing“, in den sehr wohl auf Wohnquartiere zielenden Flächenbombardements immer stärker, aber hinsichtlich der Kriegsmoral eben doch nicht entscheidend geschwächt. Seit dem Feuersturm in Hamburg vom Juli/August 1943 unter dem bezeichnenden Namen „Operation Gomorrha“, dem 34 000 Menschen zum Opfer fielen, ahnten die Deutschen, dass es kein Entrinnen vor den alliierten Luftflotten geben werde. Und doch gelang es den Gliederungen der NSDAP, insbesondere der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV), beispielsweise in Hamburg nicht weniger als 90 0000 Obdachlose zu versorgen. „Wenn nach dem Schrecken der Nacht der Volksgenosse ein Stück Brot mit Butter und einer dicken Scheibe Wurst in Händen hält und dazu eine Tasse Kaffee oder einen Teller mit Erbsensuppe“, so der Hamburger NS-Bürgermeister, „dann sieht die Welt gleich wieder viel rosiger aus.“ Und solche Worte noch im Februar 1944!

„Rosig“ sah die Welt der „Volksgemeinschaft“ am allerwenigsten für diejenigen aus, die als Verfolgte gnadenlos den Bomben ausgesetzt wurden. Für Juden und KZ-Häftlinge gab es kein Recht auf Luftschutz. Das Gewaltregime zeigte sich im Alltag in genau jener zunehmenden Radikalität, die es auch beim „großen“, beim geplanten Völkermord kennzeichnete. Dass sich nebenbei auch in England Anzeichen von Antisemitismus bemerkbar machten, gehört hingegen zur alltäglichen Reibung unter der Last der feindlichen Bedrohung und fand glücklicherweise keine nachhaltige Resonanz.

Die beständige Beschwörung der „Kriegsmoral“ sollte hier wie dort die „Heimatfront“ stabilisieren. Unter dem NS-Regime gelang es, allen immer unverbrämter auf die Zivilbevölkerung zielenden Angriffen der Alliierten, bekanntlich bis zum bitteren Ende. Dass sich zuvor bereits der „Arbeitsstab Wiederaufbauplanung zerstörter Städte“ im Speer-Ministerium ebenso um die Neuordnung städtischer Strukturen bemühte wie die englische Stadtplanung unter dem „Town and Country Planning Act“ von 1943, gehört zu den eigentümlichen Gemeinsamkeiten, die der Luftkrieg über alle ideologischen Grenzen hinweg bewirkte.

Dass nach dem Krieg gerade zwischen Deutschen und Engländern Gesten der Versöhnung ausgetauscht wurden, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Kirchen, gehört zu den wenigen tröstlichen Ergebnissen, die der Luftkrieg gezeitigt hat.





– Dietmar Süß:

Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und

England. Siedler

Verlag, München 2011.

717 Seiten, 29,99 Euro

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