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Kultur: Der Bruch zum Tage

Theater der Verfassung in Berlin: Vertrauen ist gut, Öffentlichkeit ist besser

Im Rechtsleben ist vieles Theater. Die Protagonisten stecken in Kostümen, hoch droben sitzen Richter auf ihrer Bühne, unten der Angeklagte, hinten Zuschauer: Sie sehen, wie Recht geschieht, in gestanzten Dialogen und trefflich geübten Plädoyers, besonders vornehm in Karlsruhe, dem offiziellen Festspielort des Rechts. Allerdings verändert sich die öffentliche Einschätzung, wenn die Politik zum Ort des Regelwerk-Theaters wird. Wenn das Recht also die relative Enge der forensischen Bühne verlässt und vor dem großen Publikum zur Aufführung gelangt. Aus Einverständnis wird schnell Ablehnung, denn der Politikstaat darf noch lange nicht, was der Rechtsstaat darf: mit der Verfassung spielen.

Die gehobene öffentliche Verfassungsempörung, die Gerhard Schröders Ansinnen begleitet, heute die Vertrauensfrage zu stellen, ist nun kein neues Phänomen. Sie war nicht nur bei beiden Vertrauensfragen mit Parlamentsauflösungen in der Geschichte der Republik zu vernehmen, sie wurde zuletzt auch am 22. März 2002 im Gebäude des Bundesrats in Berlin intoniert. Dort stimmte die Kammer über das Zuwanderungsgesetz ab. Weil von der SPD/CDU-Koalition in Brandenburg kein gemeinsames „Ja“ zu erwarten war, erdachte man eine originelle Inszenierung: Wenn aus Brandenburg einer „Ja“ und der andere, der Koalitionär, „Nein“ sagte, dann sollte das „Ja“ vom damaligen Ministerpräsidenten kraft Amtes den Widerspruch tilgen. So kam es dann auch, wenngleich in der Verfassung eindeutig steht, die Stimmen seien nur „einheitlich“ abzugeben. Ein schönes Stück gespielter Verfassung, der Vorhang fiel erst zum Jahresende in Karlsruhe. Die Politik hat es zu doll getrieben, meinte man und befand sich damit ganz im Einklang mit der öffentlichen Rechtsmeinung, dass der Verfassung so ein Theater niemals zugemutet werden darf.

Wirklich nicht? Der 1. Juli, der heutige Tag, lockt jetzt mit einer im Grunde noch provokanteren Dramaturgie, denn anders als am Theater und damals im Bundesrat bestimmt hier nicht der Text die Rollen, sondern die Rollen bestimmen den Text. Der erste Auftritt gehört dem Kanzler. Er stellt nach den Worten des Grundgesetzes den „Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen“, freilich ohne dass er überhaupt will, dass jemand ihm folgt. Dann kommen jene, die eigentlich die Hauptrolle spielen, aber in der Regie des Regierungstheaters doch nur Statisten sind, die Abgeordneten. Sie taten bislang immer, was ein Kanzler wollte, und sie werden es, ganz willfährige Komparsenschaft, auch diesmal tun. Dann, mit gemessenem Abstand von voraussichtlich 21 Tagen, folgt der Bundespräsident, die amtgewordene Überparteilichkeit.

Das Publikum kann auf drei Weisen reagieren: 1. Sich mit Grausen abwenden. 2. Das Theaterstück ertragen und sich auf die Neuwahlen freuen. 3. Das Theater ernst nehmen und die Daumen drücken, dass es nicht noch schlimmer kommt. Dies könnte passieren, wenn Horst Köhler die Auflösung des Parlaments verweigert. Wenn es bislang keine echte politische Krise im Land gibt – dann gäbe es sie.

Welchen Tort tut man der Verfassung nun heute an? Dass sich derzeit überwiegend Juristen zu Wort melden, die den Vorgang ganz und gar unerträglich finden, ist systembedingt. Nur in Diktaturen hat die öffentliche Meinung den Job, Zustimmung zu organisieren; in Demokratien ist sie für den Widerspruch zuständig. Wo aber sind die Politologen, die Philosophen, die Soziologen, wo sind die Bürger in diesem abgelösten Konzept von Verfassung als Fachmaterie? Verfassung ist nicht nur Recht und seine kunstfertige Exegese, sie spiegelt auch Moral, Gefühl und Gesellschaft. Jeder ist eingeladen, sie zu interpretieren, jeder ist frei festzustellen, wann andere sie brechen.

Die Akklamation des Vertrauens – oder eben des Nicht-Vertrauens –, die Artikel 68 Grundgesetz vorsieht, ist eben auch ein Appell an den Bürger, und dies unterscheidet das anstehende Theater vom Theater damals im Bundesrat, das den Bürgern längst entzogen war. Vertrauen ist ein Schlüsselbegriff in der Verfassung. Seine Bedeutung reicht über das hinaus, was Juristen darunter verstehen, nämlich allein das stete „Ja“ von hochspezialisierten Politikvertretern zu den Ansagen ihres Chefs. In Wahrheit ist es der Bürger, nach dessen Vertrauen gefragt wird. Noch jede Vertrauensfrage mit anschließender Parlamentsauflösung mündete in ein getarntes Plebiszit, das formal als Wahl daherkam, aber eine Abstimmung über konkrete politische Grundrichtungen verbarg. 1972 stimmten die Bürger über Willy Brandts Ostpolitik ab, 1983, bei Helmut Kohls „Wende“ ging es um die Frage, wie viel Schulden sich das Land noch leisten soll. Die aktuelle Vertrauensfrage führt auch in ein Plebiszit, allerdings nicht in eines um rechte und richtige oder linke und gerechte Reformpolitik, sondern eines um die Person des Kanzlers.

Jeder Bürger bestimmt also selbst, wie groß der Schaden für die Politik durch eine getürkte Vertrauensfrage ist und bis zu welchen Grenzen er die Schauspielerei von Verfassungsorganen erträgt. Doch weil Bürger gegen die seltenen Plebiszite in der Bundesrepublik mit Recht wenig einzuwenden haben, werden sie den Schaden für gering erachten. Sie empfinden die Akteure nicht als kopflos, wie sie in den Medien vielfach dargestellt werden und wie sie es tatsächlich auch nicht sind.

Wenn bald die große Empörung verflogen sein wird, ist dies auch ein kleiner Vertrauensbeweis der Bürger in ihre gewählten Eliten. Vertrauen gut, alles gut? Leider nein. Die Emphase für eine Regierung wie zu Wirtschaftswunderzeiten wird es in der Bundesrepublik vorerst kaum wieder geben. Es wird nicht mehr blind vertraut, und weil sich längst durchgesetzt hat, dass Kontrolle besser ist, haben sich die Bürger längst darauf verlegt. Mit einem entscheidenden Nachteil. Kontrolle ist mühevoll, sie kostet Aufmerksamkeit, Arbeit und Zeit, und das wollen oder können wir uns immer weniger leisten. Deshalb haben wir zur Kontrolle ein ökonomisches Verhältnis gewonnen.

Das Zauberwort heißt: Öffentlichkeit. Wir ziehen potenzielle Kontrollierbarkeit der tatsächlichen Kontrolle vor und sind damit zufrieden. Die Politik ist es offenbar auch, weshalb TV-Sender jetzt Untersuchungsausschüsse übertragen und bald jeder in Akten von Bundesbehörden lesen darf. Eins der letzten Gesetze, die der Bundespräsident in dieser Legislaturperiode noch unterzeichnen soll.

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