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Kultur: Der Charme des Prolligen

Der Name Heinrich Zille ist untrennbar mit dem Berlin der vorvorigen Jahrhundertwende verbunden. Er steht für die scharfsichtige Beobachtung der einfachen Handwerker und Kleinbürger, die im Zuge der Industrialisierung Berlins im 19.

Der Name Heinrich Zille ist untrennbar mit dem Berlin der vorvorigen Jahrhundertwende verbunden. Er steht für die scharfsichtige Beobachtung der einfachen Handwerker und Kleinbürger, die im Zuge der Industrialisierung Berlins im 19. Jahrhundert proletarisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden waren. Seine satirische Grafik war die soziale Bestandsaufnahme seines städtischen Umfelds und trug damit wesentlich zur Darstellung des Berliner Volkslebens bei. Darüber hinaus nahm der 1858 geborene Zille an der künstlerischen Entwicklung seiner Stadt regen Anteil. Seit 1903 war er Mitglied der Berliner Secession; nach Gründung der Freien Secession 1913 wurde er in deren Vorstand gewählt. 1924 erfolgte die Berufung als Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und die Ernennung zum Professor. Schließlich würdigte das Märkische Museum den Künstler 1928, ein Jahr vor seinem Tod, mit einer Retrospektive. Umso erstaunlicher ist es, dass Zille in der heutigen Berliner Museumslandschaft eine eher abseitige Position einnimmt. Obschon er zu seiner Zeit in das künstlerische Bezugsfeld des Berliner Realismus gestellt wurde, zu dem auch Chodowiecki, Schadow und Krüger zählten, scheint das Volkstümliche seines Schaffens einer ästhetischen Würdigung eher hinderlich. Gerade an einer Figur wie Zille, der mit der Welt der sogenannten kleinen Leute ebenso vertraut war wie mit den künstlerisch-ästhetischen Standards seiner Zeit und der bereits zu Lebzeiten immer zwischen den Fronten der sogenannten Hochkunst und der Populärkultur gestanden hatte, wird deutlich, dass die Spaltung von high und low allen Totsagungen zum Trotz auch heute noch bestens funktioniert.

Die 1999 ins Leben gerufene Heinrich Zille-Gesellschaft-Berlin will hier Abhilfe schaffen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben und Werk Zilles über die Grenzen Berlins hinaus einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dafür ist ein Museum geplant, das seinen Standort im Berliner Nikolaiviertel finden soll. Im Vorfeld der Eröffnung, die bereits für den Januar 2002 projektiert ist, zeigt die Galerie Tableau in ihrer aktuellen Verkaufsausstellung über 100 Arbeiten des Künstlers. Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit dem Gründungsdirektor des Heinrich-Zille-Museums Albrecht Pyritz konzipiert und realisiert. Der 38-jährige Kunsthistoriker Pyritz hat zwischen 1995 und 1997 bereits die große Zille-Retrospektive "Zeichner der Großstadt" vorbereitet, die neben Berlin in Hannover und Köln zu sehen war.

Das breite Spektrum der ausgestellten Werke, das von druckgrafischen Arbeiten und Zeichnungen bis zu Skizzen und Studien reicht, bildet einen Querschnitt durch das Gesamtwerk des Berliner Chronisten und stellt sowohl seine Schwächen als auch Stärken heraus. Am stärksten ist Zille, wenn er seine Darstellung aufs Äußerste reduziert und mit wenigen signifikanten Strichen das Charakteristische einer Figur oder einer spezifischen Situation einfängt. Wie bei der Zeichnung "Männlicher Kopf im Profil" (2400 Mark) oder dem "Mädchen mit Hut in Rückenansicht" (6300 Mark). Speziell in den Pastell- und Kreidezeichnungen zeigt sich ein französischer Einfluss. Deutlich wird insbesondere die Nähe zu Toulouse-Lautrec, den Zille von den Ausstellungen der Secession kannte und dessen Pariser Chic er den unverkennbar prolligen Charme der Berliner Bürgerinnen gegenüberstellte ("Drei Damen im Tiergarten", 1901, Preis auf Anfrage). Besonders eindringlich sind die Blätter Zilles, auf denen er die Darstellung von Elend und Verzweiflung mit moralischen Appellen verbindet. Wie auf der um 1890 entstandenen Kreide-Aquarell-Zeichnung "Des Lebens satt" (35 000 Mark). Sie zeigt eine Selbstmörderin mit ihrem Kind vor dem Sprung von einer Brücke. Die auf den Betrachter gerichteten schreckgeweiteten Augen des Kindes sind Hilferuf und gesellschaftliche Anklage zugleich.

Manchmal aber kippt das Anekdotische der Inszenierungen Zilles ins Geschwätzige, das Anrührende schlägt um in kitschige Rührseligkeit. Da vermittelt sich dann nicht mehr die "Authentizität des Lebendigen", die der Berliner Kunstkritiker Matthias Flügge einmal als Eigenart der Blätter Zilles hervorgehoben hat, sondern eher das verklärende Klischeebild eines längst untergegangenen Berlins. So gesehen bietet die Ausstellung ein Kontrastprogramm zur wendigen Großstadt der Gegenwart und stellt gleichzeitig ein Beispiel für künstlerische Verarbeitung von Veränderungen dar.

ANJA OSSWALD

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