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Kultur: Der coolste Mann der Welt Aus der Favela nach Hollywood: Seu Jorge

spielt beim Cinebrasil-Festival in Berlin

Laufbursche, Reifenflicker, Uhrmacher – das sind die Jobs, mit denen Jorge Mário da Silva schon als Kind seine Familie unterstützt. Man lebt in einer armen Vorstadt von Rio de Janeiro. Oft gibt es nichts zu essen. Doch das größte Leid bricht über die da Silvas herein, als Sohn Vitorio im Alter von 16 Jahren bei einer Schießerei zwischen Drogenbanden und Polizei ums Leben kommt. Er wollte in der Bäckerei an der Ecke einen Kaffee trinken. Zur falschen Zeit am falschen Ort.

„Dabei könnte das Leben in der Favela so schön sein“, sagt Seu Jorge, wie er sich jetzt nennt, „wenn Drogenbosse und Polizei nicht wären.“ Der Musiker, der am heutigen Sonnabend im Rahmen des Kinofestivals Cinebrasil im Berliner Huxleys auftritt, schätzt das Glück des Augenblicks: wenn ein paar ältere Frauen vor der Haustür lautstark die Liebe und das Leben debattieren. Doch heute meidet er sein altes Viertel, weil jede Ecke ihn an den kleinen Bruder erinnert. Mit dessen Tod war auch das bis dahin intakte Familienleben vorbei. Das Elternhaus bricht zusammen, die Mutter muss das Haus verkaufen, und Jorge landet auf der Straße.

Als Schlafstätte wählt er die Stufen einer Schauspielschule. Und nach ein paar Tagen bittet man ihn hinein. Neben einem Obdach bekommt er auch erste Erfahrungen auf der Bühne. Einer der Lehrer ist Gabriel Moura, ohne den Jorges Leben anders verlaufen wäre. In ihm findet der leicht verwahrloste junge Mann sowohl einen Freund als auch einen Gitarrenlehrer. Die Musik gibt ihm Hoffnung. Gemeinsam gründen die beiden die Band Farofa Carioca und spielen kostenlos am Strand. Dabei erschaffen die Jungs eine neue Spielart des Samba. Gewürzt mit Reggae, Rap und Funk, erspielt sich Farofa Carioca ein eigenes Publikum. Die erste Platte „Moro no Brasil“ (Ich lebe in Brasilien) wird 1998 auch international ein Hit.

Mit Mario Caldato, dem Produzenten der Beastie Boys, nimmt Jorge drei Jahre später sein erstes Soloalbum in Angriff: „Carolina“. Jorge überzeugt darauf mit einer Stimme, die rau und doch süß ist, oft melancholisch klingt und trotzdem den unbedingten Willen aufweist, das Publikum zum Tanzen zu bringen.

Seu Jorge hat noch eine zweite Karriere: Er ist auch Schauspieler. Wieder hilft ihm Gabriel Moura, der ihn mit dem finnischen Regisseur Mika Kaurismäki bekannt macht. So wird er erst Statist und dann musikalischer Vertreter Rio de Janeiros in dessen Dokumentarfilm „Moro no Brasil“. Und es geht weiter steil bergauf. 2002 wirkt Jorge in Fernando Meirelles’ Favela-Epos „City of God“ mit. Er konnte sich durch seine Erfahrungen gut in seine Rolle hineinversetzen. Zumal auch der von ihm verkörperte Mané Galinha seinen kleinen Bruder im Bandenkrieg verliert. Der entschließt sich zur Rache – anders als der echte Jorge. „Eigentlich bin ich ein ganz entspannter Typ“, sagt er und unterstreicht das mit einem breiten Grinsen.

Eine wunderbare Rolle gibt ihm 2004 Wes Anderson in seiner Komödie „Die Tiefseetaucher“. Jorge spielt einen Sonderling, der durch seine Musikeinlagen in Erinnerung bleibt. Nur mit der Akustikgitarre covert er David-Bowie auf Portugiesisch. Bowie sagt später, er habe nie bessere Coverversionen seiner Lieder gehört. Der ständige Wechsel zwischen Film und Musik ist für Seu Jorge selbstverständlich. In der Musik findet er seine Geschichte, am Schauspiel beeindruckt ihn, dass er immer etwas lerne. Sei es tauchen, tanzen oder mit verbundenen Augen durch die Straßen zu gehen. Und es verheißt Unsterblichkeit. „Sehen Sie sich Marlon Brando an. Er ist tot, aber als ‚Godfather’ wird er immer leben.“

Vor großen Namen hatte Seu Jorge noch nie Angst. Als er 2004 in Paris das Album „Cru“ (roh) aufnimmt, covert er Stücke von den Megastars Serge Gainsbourg und Elvis Presley. Für ihn ist das folgerichtig. Schließlich habe Elvis sich von schwarzer Musik inspirieren lassen. Er hole sich nun seinen Teil zurück. Die sanfte Akustikgitarre und Seu Jorges warme Stimme begeistern weltweit Musikkritiker. Der britische „Telegraph“ kürt ihn sogar zum „coolest Man on the Planet“. Die Musik klingt ungemein entspannt, doch die Texte strotzen vor Aufmüpfigkeit. So heißt es in dem Song „Eu sou Favela“ (Ich bin Favela): „Die Leute sind bescheiden und ausgestoßen. Ein Hungerlohn ist das normale Leben.“

In den brasilianischen Kinos läuft derzeit der Thriller „Tropa de Elite 2“. Jorge spielt einen Häftling, der einen Aufstand anführt. Gnadenlose Gewalt in dunklen Gassen wird dem Luxusleben der Politikerkaste gegenübergestellt. Die Teilung der brasilianischen Gesellschaft ist noch lange nicht überwunden. Marlene Giese

Konzert: Heute, Samstag, 23. 10., 22 Uhr im Berliner Huxleys. Das Programm des Cinebrasil-Festivals finden Sie unter: www.babylonberlin.de

Marlene Giese

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