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Kultur: Der Dämon

Israels Regierung benutzt Yassir Arafat als Lieblingsfeind und will ihn doch eliminieren – ein fataler Fall

Stellen wir uns einmal vor, es gäbe Yassir Arafat nicht mehr. Für die israelische Regierung käme dies einem Horrorszenario gleich. Palästina ohne Arafat – dies wäre der Verlust eines der wichtigsten Sündenböcke. Nicht, dass es Ariel Scharons Regierung an Sündenböcken mangelt: Shimon Peres, der soeben seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, dient dem Likud schon seit der Rechtswende der israelischen Politik von 1977 an in dieser Rolle. Doch der ultimative Sündenbock für die zur Zeit aussichtslose Lage bleibt Yassir Arafat.

Gewiss ist Arafats Verhalten vornehmlich destruktiv, vor allem seit Beginn der El-Aqsa-Intifada im Herbst 2000. Darüber hinaus hat er sich als schlampiger und korrupter Regierungschef erwiesen, als ein Revolutionär, der den Übergang zum Politiker letztlich nicht geschafft hat. Und man kann gegen Arafat auch den begründeten Vorwurf erheben, er habe – vielleicht sogar ohne dies tatsächlich geplant zu haben – seit Beginn der zweiten Intifada dem gegen unschuldige Zivilisten gerichteten palästinensischen Terror freie Bahn gegeben. Statt mutig eine alternative Art von Widerstand zu leisten. Und doch, das alleinige Hindernis auf dem Weg zum Frieden im Nahen Osten ist Arafat sicher nicht. Scharons Regierung dient er vor allem als Sündenbock, weil durch den Hinweis auf Arafat verdrängt werden kann, dass die Ursache für das Scheitern des Friedensprozesses zu mindestens fünfzig Prozent bei der israelischen Politik liegt.

Die rechtsorientierten Regierungen Israels haben wiederholt Yassir Arafat als Vorwand benutzt, um einen anstehenden Kompromiss mit den Palästinensern zu vermeiden. Was Yitzhak Rabin getan hat, nämlich sich selbst zu überwinden und mit Arafat Vereinbarungen zu treffen, haben seine Nachfolger als schweren, geradezu sündhaften Irrtum empfunden und – abgesehen von vereinzelten, von Amerika erzwungenen Ausnahmen – abgelehnt. Hinter dieser Haltung steckt jedoch mehr Zynismus als echte Angst vor dem Gewalttäter: So lange man Arafat als Bösewicht politisch delegitimieren kann, braucht man sich mit der eigenen „Erbsünde“ nicht auseinanderzusetzen: mit der Siedlungspolitik und den Siedlern.

Spätestens seit 1988 die PLO die Zwei-Staaten-Lösung (Israel-Palästina) akzeptierte, ist klar, dass die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und ein Frieden mit einem palästinensischen Staat nicht in Einklang zu bringen sind. Israel baut seine Siedlungen ja nicht, um eine jüdische Minderheit im künftigen Staat Palästina zu sichern, sondern um diesen Staat schon im Keim zu ersticken. Wer auch immer an der Spitze der Palästinenser stehen mag, den Widerstand gegen die Siedlungen wird er nicht aufgeben oder bekämpfen. Eine Vereinbarung, eine Verständigung mit den Palästinensern kann erst dann erzielt werden, wenn Israel seine Siedlungspolitik revidiert oder wenigstens zunächst einmal einstellt.

Weil die israelischen Regierungen jedoch seit Rabins Ermordung nolens volens die Siedlungspolitik fortsetzen und keine Konfrontation mit Siedlern und Rechtsradikalen – nur drei Prozent der Gesamtbevölkerung! – riskieren wollten, haben sie Arafat zu jenem Dämon aufgewertet, mit dem man niemals verhandeln könne oder dürfe. So entstand die Parole vom fehlenden Partner zum Frieden.

Dass der palästinensische Terror eine, wenn auch irrationale, Reaktion auf Besatzung und Demütigung ist, der auch in der Siedlungs-Ideologie seine Ursachen hat, ist ein zweites Grundproblem, das nicht angesprochen wird. Vielmehr findet man eine entlastende Erklärung für die Zustimmung zum Terror im palästinensischen Lager, die auf Arafat als Anstifter zum Terror zielt.

Die radikalisierende Rolle Amerikas

Nun sind die rechtsradikalen Minister in Scharons Kabinett, für die der Begriff der „Liquidierung“ kein Tabuwort ist, Opfer des eigenen Ablenkungsmanövers geworden. Sie glauben tatsächlich, dass Arafat der Schlüssel für die Bekämpfung des Terrors ist und die israelische Politik daher nur ein Defizit aufweist: Arafat zur „Lösung des Problems“ nicht längst beseitigt zu haben. Einem Zyniker wie Scharon, der sehr wohl weiß, dass die Ursache für die Misere Israels die Siedlungspolitik ist (und dies bewusst in Kauf nimmt), kommt dieser Druck von rechts außerordentlich gelegen, lenkt er doch von der eigenen Ohnmacht bei der Bekämpfung des Terrors und der eigenen Schuld am Scheitern des Friedensprozesses ab. Zudem konzentriert sich in der Folge die offizielle Diskussion im In- und Ausland auf die eigentlich doch belanglose Frage nach Yassir Arafat. Natürlich geben die Amerikaner dabei Acht, dass dieses Drängen, Arafat zu eliminieren, nicht unmittelbar in eine verheerende Tat umgesetzt wird.

Hier werden drei Paradoxa deutlich: Erstens spielt Amerika auch unfreiwillig eine eher radikalisierende Rolle. Scharon kennt seinen George W. Bush: Im Kampf gegen den Terror wird Arafat als eine Zwergenausgabe von Osama Bin Laden oder Saddam Hussein dargestellt. Nur das nüchterne State Department warnt vor allzu radikalen Schlussfolgerungen. Zweitens gehörte es bisher zum guten Ton, in Verhandlungen mit Arabern oder Palästinensern auf das demokratische Element hinzuweisen. Mit nichtdemokratischen Regimen könne man nicht verhandeln. Dieses Argument kam bei den Amerikanern stets besonders gut an. Nun ist Arafat aber der gewählte Präsident der Palästinenser, und Israel und Amerika versuchen, diese Wahl mit diplomatischen, keineswegs immer demokratischen Mittel zu ignorieren. Drittens war die israelische Regierung bisher stets bemüht, Arafat als „irrelevant“ darzustellen. Mit ihrer neuen Entscheidung, Arafat zu beseitigen, hat sie ihr eigenes Ziel unterminiert: Arafat wurde so relevant wie kaum zuvor.

Wäre Israels Regierung tatsächlich an einer produktiven Lösung interessiert, hätte sie den Stier bei den Hörnern gepackt und die Siedlungspolitik neu überdacht. Das hätte auch der Idee einer klaren Grenze jenen Sinn gegeben, der dem jetzigen Mauerbau fehlt. Mindestens aber hätte man versuchen können, einem alternativen Führer der Palästinenser auf demokratischem Wege zur Macht zu verhelfen – nicht von oben oktroyierten Personen wie Abu Masen oder Abu Alla, sondern einem Volkstribun, wie er gegenwärtig im israelischen Gefängnis sitzt – Marwan Barguthi. Barguthi hat sich vor einem israelischen Gericht für Terrorakte zu verantworten, obwohl er mehrmals seine Bereitschaft zum Frieden mit Israel bekundet hatte.

Als Angehöriger einer jüngeren Generation, der mit Israelis Hebräisch und nicht, wie Arafat, Arabisch oder Englisch spricht, verlangt Barguthi nur eines: ein Ende der Besatzung und der Siedlungspolitik. Deshalb hält Scharon fest an der Arafat-Debatte. Doch wie lange noch? Auch der Dämon Arafat gehört zu den Sterblichen – allein schon aus Altersgründen, versteht sich.

Der Autor lehrt Neuere u. Neueste Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Moshe Zimmermann

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