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Kultur: Der digitalisierte Geheimrat - Weimar hebt die Dichterklause in virtuelle Welten

Das war abzusehen: die millionenfache Multiplizierung Goethes in seinem runden Geburtstagsjahr - ob als Buch, Bild oder Gummipüppchen. Weimar als die Goethe-Stätte schlechthin und Kulturhauptstadt zumal hat diese Herausforderung offensiv angenommen.

Das war abzusehen: die millionenfache Multiplizierung Goethes in seinem runden Geburtstagsjahr - ob als Buch, Bild oder Gummipüppchen. Weimar als die Goethe-Stätte schlechthin und Kulturhauptstadt zumal hat diese Herausforderung offensiv angenommen. Das Klassikerstädtchen beteiligt sich dabei nicht nur an der gewinnträchtigen Vervielfältigung seines wichtigsten Schutzpatrons, hier machte man sich im Jubiläumsjahr auch gleich an die Reproduktion seiner Dichterklause, des so malerisch im Park an der Ilm gelegenen Gartenhauses.

Mit einer Mischung aus Verstörtheit und Verblüffung nahm das Publikum Weimars neueste Attraktion zur Kenntnis, verglich mit wachsender Begeisterung die nur hundert Meter auseinander gelegenen, einander wie ein Ei dem anderen gleichenden Bauten und verstieg sich im Besucherbuch in Betrachtungen über Sinn und Unsinn einer solchen Klon-Aktion im "Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit". Die zwischen touristischem Gag und intellektuellem Gedankenspiel angesiedelte Kleinod-Kopie hat nun eine Steigerung erfahren: Goethes Gartenhaus goes virtuell. In der Orangerie des vor der Stadt gelegenen Schlosses Belvedere hat die Berliner artemedia productions gmbh (gesponsert von der S-Finanzgruppe) eine Multimedia-Installation eingerichtet, die sinnig mit den Ebenen Vorbild, Abbild und dessen Kopie im Cyberspace spielt.

Ein Kameramann wurde durch beide Häuser an der Ilm geschickt; die beiden beinahe identischen Kamerafahrten durch Original und Kopie erscheinen nun auf die spiegelnde Oberfläche von zehn Wasserwannen projiziert. Und während sich der Besucher noch über die in den Boden eingelassenen Filmbilder beugt, um herauszufinden, welche Aufnahme nun wo entstand, klatscht ein Wassertropfen darauf, der die ruhige Fläche in wellenförmige Bewegung versetzt. Dem modernen Narziss sei dies eine Warnung, sich nicht zu sehr in den virtuellen Welten zu vertiefen; er kann darin zwar nicht ertrinken, aber doch die Orientierung verlieren. Der kleine Schreck mag auch als Stärkung für die nächste Stufe des medialisierten Gartenhauses dienen: die nunmehr digitalisierte Reproduktion jenes harmlosen kleinen Weinhauses aus dem 17. Jahrhundert. Eine dritte Kamerafahrt wurde komplett computergeneriert; nur die allzu scharf gezogenen Schattenwürfe der wandgroßen Projektion verraten noch, dass sich der Betrachter auf endgültig artifiziellen Bahnen bewegt.

Der ein oder anderen Brust dürfte bei der geschwinden Vorbeifahrt an Goethes Schreibpult ein sentimentalischer Seufzer entweichen. War es nicht hier, wo der Dichter seine schönsten Verse schrieb? Nein, natürlich nicht, muss die nüchterne Antwort lauten. Schließlich handelt es sich nur um die Kopie von der Kopie der Kopie. Das Original hat sich über all diesen Nachbauten und Nachstellungen längst verflüchtigt. Die Aura des Authentischen ist nach etlichen Sanierungen selbst bei dem vermeintlichen Original nur noch Konstrukt, das der Goethe-Gemeinde als Gedankenstütze dient.

Trost bei dieser traurigen Erkenntnis spendet am Ende Goethe selbst. Schließlich stammt von ihm das Wort: "Ich bedaure die Menschen, welche von der Vergänglichkeit der Dinge viel Wesens machen und sich in Betrachtung irdischer Nichtigkeit verlieren. Sind wir ja eben deshalb da, um das Vergängliche unvergänglich zu machen; das kann ja nur dadurch geschehen, wenn man beides zu schätzen weiß." Da melden sich auch schon die ersten Stimmen, die das zweite Gartenhaus über das Jubiläumsjahr hinaus halten wollen. Das virtuelle Pendant wird allerdings weichen müssen, wenn ganz real der Winter kommt und die Zierpflanzen in die Orangerie zurückkehren.Schloss Belvedere, Weimar, bis 12. September.

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