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Kultur: Der Dreiminutenkönig

Ray Davies, Kopf der Kinks, stellt in Berlin sein erstes Soloalbum vor

Gespannte Erwartung erfüllt das Edelambiente der Bristol Bar im Kempinski. Ein handverlesenes Publikum lauert auf Mister Britpop himself: Ray Davies, früher Sänger und Songschreiber der Kinks, ist in Berlin, um sein Soloalbum „Other People’s Lives“ (V2) vorzustellen. Und da kommt er durch die Bar geschlendert, nein, eher gefedert mit seinen 61 Jahren. Das Sakko kaschiert ein kleines Bäuchlein über aristokratisch dürren Beinchen, ein Schal ist lässig um den Hals gewickelt, das licht werdende Haupthaar mild zerzupft. Davies greift zur Akustischen, zu seiner Rechten Mark Johns, der ihn bei diesem Unplugged-Showcase kongenial begleitet. Die beiden stimmen „Waterloo Sunset“ an, einen der berühmtesten Songs der Kinks. Ein Sixties-Klassiker, aus dessen unvergänglicher Substanz sich Jahrzehnte später Bands wie Blur oder Supergrass die Grundsteine ihrer Karrieren meißeln konnten. Aber „Waterloo Sunset“ ist heute nur ein kurz angespielter Scherz, der im Gelächter verendet – die Kinks sind kein Thema mehr.

Nach über 40 Jahren im Popgeschäft hat Ray Davies endlich eine „richtige“ Soloplatte aufgenommen, die erste mit eigens dafür komponierten Stücken. Die Idee zu „Other People’s Lives“ entstand in den Neunzigern, nach dem großen Erfolg des Unplugged-Livealbums „Storyteller“. Der britischste aller Britpop-Helden skizzierte ausgerechnet auf einer surreal anmutenden US-Konzerttour während der Post-9/11-Wirren die meisten der neuen Stücke. In New Orleans schließlich, wo er sich für längere Zeit niederließ und 2004 bei einem Raubüberfall niedergeschossen wurde, fand Davies die Inspiration, die er zur Vollendung seiner Arbeit gesucht hatte: Hier schlug nicht nur das Herz der amerikanischen Popmusik, hier kam er auch seinen eigenen musikalischen Wurzeln sehr nahe.

Wie fast alle großen britischen Bands der Sechziger machten auch die Kinks mit enthusiastischen Blues-Coverversionen ihre ersten Karriereschritte. Aus der harmlosen Beatkapelle wurde rasch eine der besten Bands ihrer Zeit, weil sie mit Ray Davies einen begnadeten Songschreiber besaß. Davies’ präzise Beobachtungen der Alltagskultur Londoner Vorstädte galten als Inbegriff raffinierter Popmusik. Paradoxerweise bekamen die Kinks in ihrer Heimat nach 1970 kein Bein mehr an den Boden, während sie in den USA enorme Erfolge feierten. Am Ende des Jahrzehnts füllten sie dort mit chromblitzenden Metal-Versionen ihrer alten Kracher wie „You Really Got Me“ oder „All Day And All Of The Night“ große Stadien. Für Ray Davies eine desaströse Ära: Er verzapfte unverständliche Konzeptalben, das permanente Tourleben war dem scheuen Sonderling zuwider, zudem verließ ihn seine Frau Rasa, was einen beinahe suizidalen Tablettenkonsum zur Folge hatte. Trotzdem verschwanden die Kinks erst in den Neunzigern von der Bildfläche.

„Other People’s Lives“ markiert einen wichtigen Schritt für Ray Davies. Auch wenn die Kinks in erster Linie seine Band waren, sieht er sich in der künstlerischen Beweispflicht. Und es gelingt Davies, aus dem eigenen Schatten herauszutreten: Das Solodebüt enthält einige Songs, die zu den besten seiner Karriere gehören, und sie erinnern an nichts, was er jemals mit den Kinks gemacht hat. „Things Are Gonna Change (The Morning After)“ etwa, der kraftvoll groovende Opener mit Stromgitarren aus der Echokammer, klingt nach urban mutiertem Wüstenrock. Und wie einige Stücke auf einer stilistisch heterogenen Platte entschieden amerikanisch, wäre da nicht diese charakteristische, erzbritische Stimme. Aber selbst der Gesang verblüfft mit einer Wandlungsfähigkeit, die man Davies nicht zugetraut hätte. Sein mal verschnupft nasales, mal zärtlich raspelndes Organ unterstreicht die Einzigartigkeit eines wahren Pop-Individuums.

In der Bristol Bar ist nach sieben gefühlvoll und konzentriert vorgetragenen Songs leider Schluss, aber Davies stellt sich noch ein paar Fragen. Ob er den Überfall von New Orleans in einem Song thematisiert habe? Darauf antwortet er lakonisch, es gäbe kein „You really shot me“.

Ray Davies hat einmal gesagt, dass der Dreiminutenpopsong zu den originären Kunstformen des 20. Jahrhunderts gehört. Es ist schön, einen der größten Virtuosen dieser Gattung wieder zurück zu wissen. Da macht es gar nichts, dass er jetzt meist ein, zwei Minuten länger für seine Kunst braucht.

Jörg W, er

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