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Kultur: Der Ein-Mann-Zirkus

Hochgeschwindigkeitsabend, schnörkellos: Morrissey singt in der ausverkauften Berliner Arena

Der berührendste Moment des Abends: eine Liebeserklärung. „Close your eyes, and think of someone you physically admire“, singt Steven Patrick Morrissey. „And let me kiss you / Let me kiss you.“ Seit einer Stunde steht der Sänger auf der Bühne der ausverkauften Berliner Arena, er hat vierzehn Songs hinter sich und zwei Hemden durchgeschwitzt. „Close Your Eyes“, die Wünsch-dir-was-Ballade aus seinem großartigen, vor zwei Jahren erschienenen Comeback-Album „You Are The Quarry“ endet mit dem Angebot einer totalen Hingabe: „My heart is open, my heart is open to you.“ Dann greift er sich in den Kragen, wo eine schwere Goldkette baumelt, knöpft sein Hemd auf und wirft es ins jubelnde Publikum. Einen Augenblick lang steht er halbnackt im weißen Scheinwerferkegel: ein 47-jähriger Pop-Erlöser, etwas füllig geworden, aber immer noch blendend durchtrainiert.

Seit einem Vierteljahrhundert ist Morrissey ein Star, aber zum allseits verehrten Idol hat er sich nie machen lassen. Seine Texte sind gespickt mit Bösartigkeiten und Doppeldeutigem, den Verbrüderungsgesten des Rockbusiness hat er sich stets entzogen. Beim Konzert lässt er die üblichen Liebesbekundungen über sich ergehen und nimmt die auf die Bühne geworfenen Geschenke – eine Zigarre, ein Buch, einen Bayern-München-Schal – dankend entgegen. Den Schal legt er sich sogar über die Schultern und singt dazu passenderweise den Verweigerungssong „I’ll Never Be Anybody’s Hero Now“ aus seiner überschwänglichen, im Frühjahr herausgekommenen Platte „Ringleader Of The Tormentors“. Als die Fans dann aber rhythmisch zu klatschen beginnen, äfft er sie mit rollendem R radebrechend wie ein Hollywood-Nazi nach: „Einz, zwo, drrrei.“ Der ehemalige Sänger der Smiths, von BBC-Zuschauern gerade zur „zweitgrößten lebenden Legende“ gewählt (hinter David Attenborough, aber vor Paul McCartney und David Bowie), bleibt ein charmanter Kotzbrocken.

Auf einer Leinwand über der Bühne hängt ein gigantisches Dia, das Pier Paolo Pasolini bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Das Evangelium nach Matthäus“ zeigt. Man kann darin ein Bekenntnis zum Christentum oder zur Homosexualität, vielleicht einfach auch nur einen Verweis auf Rom sehen, die Stadt, in der Morrissey seit ein paar Jahren lebt. Unter dem Bild, genau in der Raumachse, steht ein riesiger Gong, der an die Vorspänne alter Filme aus den britischen Rank-Studios erinnert. Der Gong wird an diesem Abend nur dreimal geschlagen, musikalisch ist er bedeutungslos, aber er signalisiert, was ein Morrissey-Konzert vor allem ist: eine gewaltige Show.

Die Tormentors – die Gitarristen Boz Boorer und Jesse Tobias, Bassist Gary Day, Keyboarder Mikey Farrell und Schlagzeuger Matt Walker – tragen seltsam kellnerhaft wirkende Banduniformen: dunkle Hosen, weiße Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln, dazu schwarze Fliegen. Das Konzert beginnt mit dem alten Smiths-Hit „Panic“, gespielt in einer treibend forcierten Version. Es folgen Stücke aus Morrisseys letzten beiden Alben, die schwelgerische Hymne „First Of The Gang To Die“ und die mit Keyboardchorälen unterlegte Midtemponummer „The Youngest Was The Most Loved“, an dessen Ende der Sänger zum ersten Mal zu seinem berühmt-berüchtigen Falsett-Jodeln ansetzt. Morrissey gibt den Getriebenen. Er knotet die Krawatte von seinem Hals, fingert das Mikrofon aus dem Ständer und schlägt mit dem Kabel wie mit einer Peitsche auf den Boden. Zwischendurch schüttelt er an der Bühnenrampe Hände.

Ein „Ringleader“, Rädelsführer? Eher der Löwenbändiger eines Ein-Mann-Zirkus. „Save me, save me“, barmt Morrissey in „Ganglord“, aber es könnte genausogut „Shake me, shake me“ heißen. Mit Ansagen hält er sich nicht lange auf, einmal witzelt er: „Wir sind perfekt – aber niemand mag uns“, und als er seine Musiker vorstellt, sagt er, sie seien „so schüchtern, dass sie sich nicht trauen, sich selber nackt anzuschauen“. Ein Gag, der die Rollenverteilung in der Band ganz gut beschreibt. Die Musiker gehen solide, aber unauffällig ihrer Arbeit nach und beschränken sich auf Miniatur-Soli. Glänzen darf nur der Sänger.

Es ist ein Hochgeschwindigkeitsabend, schnörkellos reihen sich Smiths-Klassiker wie „Girlfriend In A Coma“ und „William, It Was Really Nothing“ an Solohits wie „Everyday Is Like Sunday“ oder „Irish Blood, English Heart“ . Auch „The National Front Disco“ mit der umstrittenen Textzeile „England for the English!“ fehlt nicht. Es gibt grandiose Momente – die akustisch beginnende, majestätisch aufschäumende Ballade „In The Future When All’s Well“, das Wah-Wah-Getöse am Ende von „How Soon Is Now“ –, die sich aber nicht zum wirklich grandiosen Konzert fügen. Die Euphorie bei Morrissey, den Musikern und den Zuhörern mag groß sein, doch der Sound ist lausig. Trompetenakkorde klingen wie Kirmesgetröte, die Gitarren versacken im Klangmatsch. Nach eindreiviertel Stunden und drei Zugaben ist Schluss. Das Licht geht an, Sinatra singt vom Band „That’s Life“.

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