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Kultur: Der Eingang liegt in der Geschichte

Meine Räume, meine Träume. Berliner Szenen – mit Senator und Kanzler/Von Daniel Libeskind

Meine Bücherregale sind voll mit Architekturbüchern über siegreiche Wettbewerbsentwürfe, die nie in die Tat umgesetzt wurden; tatsächlich haben es neunundneunzig Prozent all dieser Entwürfe noch nicht einmal über die Planungsphase hinaus geschafft. Es ist sehr viel einfacher, einen Wettbewerb zu gewinnen, als den siegreichen Plan später auch zu realisieren.

Viele der Probleme rund um den Berliner Wettbewerb für das künftige Jüdische Museum und dessen Nachwirkungen erlebte ich später bei Ground Zero erneut. In New York hatten sich die Organisatoren vorgestellt, dass der Wettbewerb zum Wiederaufbau des World Trade Center einen wandelbaren Entwurf hervorbringen sollte. Also sprachen sie von einer „Designstudie“, womit sie zum Ausdruck bringen wollten, dass sie nach Ideen und Möglichkeiten suchten, über die nachgedacht werden konnte und die – vielleicht – eines Tages in einem fertigen Konzept vereint werden würden.

Doch die Vorgänge in New York ähnelten den Ereignissen in Berlin: Der Wettbewerb um Ground Zero entwickelte ein Eigenleben. Die Öffentlichkeit machte sich für einige der vorgestellten Gebäudemodelle stark. Sie war nicht am Abstrakten interessiert; sie reagierte positiv auf bestimmte Entwürfe und wollte, dass diese errichtet würden. Die New Yorker brannten darauf, die Wunden zu heilen und neu zu bauen. Und in Berlin wurde das von uns entworfene Gebäude vom Strudel der Ereignisse mitgerissen: Die Mauer fiel, Osteuropa wandelte sich, und ein neues Deutschland entstand. Die Veränderungen waren fassbar, und die Berliner blickten freudig erregt in die Zukunft. Sie brannten darauf, dass es vorwärts ging.

Einige Zeit nach unserer Ankunft in Berlin hörte ich, dass der neu ernannte Bausenator Wolfgang Nagel den amerikanischen Architekten Steven Holl in die Stadt eingeladen hatte und dass Nagel eine Pressekonferenz über die Erweiterung der Amerika-Gedenkbibliothek abhalten wolle, die Holl entworfen hatte und die nun kurz vor ihrer Verwirklichung stand. Also ging ich hin, um mir das Ganze anzusehen.

Auf der Bühne stand ein glückstrahlender Holl vor dem Modell seiner ungewöhnlichen, skulpturalen Bibliothek. Auf einer Seite neben ihm stand sein Übersetzer, auf der anderen der kampfeslustig dreinblickende Senator Nagel. Die deutschen Medienvertreter kämpften um die besten Plätze und warteten darauf, dass der Senator begann. Zum festgesetzten Zeitpunkt trat Nagel ans Mikrofon: „Ich bin hierher gekommen, um dem Architekten mitzuteilen, dass sein Projekt nicht länger der Sieger ist und dass wir den Wettbewerb nun auch für andere öffnen werden.“ Holl, der kein Deutsch sprach, lächelte zufrieden – bis der Übersetzer sich zu ihm beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Einen oder zwei Tage später bekam ich einen Anruf von jemandem aus dem Berliner Senat: „Mr. Libeskind, Senator Nagel würde Ihr Projekt gerne noch einmal prüfen und auch die anderen zwölf Entwürfe begutachten, die im Finale waren.“

„Der Kerl ist verrückt!“, sagte ich zu meiner Frau Nina. „Ich habe den Wettbewerb doch schon vor Monaten gewonnen.“ Wir saßen unter den rotweißen Sonnenschirmen vor dem Café Kranzler, ganz in der Nähe des Baudezernats. In wenigen Minuten würden wir dem Mann gegenübersitzen, der seinem Nachnamen bis jetzt alle Ehre gemacht hatte. „Kann er sich wirklich für einen anderen Plan entscheiden?“, fragte ich, „für einen Entwurf, der bereits abgelehnt wurde?“ Nina entstammt einer kanadischen Politikerfamilie und ist Expertin in der Beurteilung solcher Situationen. Ich bin dagegen völlig naiv. „Nagel ist nicht an irgendeinem anderen Entwurf interessiert, sondern nur daran, dein Projekt zu streichen. Lass uns überlegen, was er dich fragen könnte, und uns darauf vorbereiten.“

Als wir den Raum betraten, wandten sich die Vertreter des Dezernats – sämtliche hohen Senatsbeamten, mindestens zwanzig Personen, waren hier versammelt – zu uns um und blickten uns schweigend an. Dies waren also die Menschen, die tatsächlich Gebäude errichten lassen konnten. Sie standen steif in Grüppchen beieinander und warteten darauf, dass der Senator eintraf. Er war für sieben Uhr abends angekündigt, doch erst fünfundvierzig Minuten später stürmte er in den Raum, hinter sich ein Gefolge von Journalisten und Beratern. Er steuerte direkt auf mich zu, bis wir einander direkt gegenüberstanden. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, seinen Mantel aufzuknöpfen. Es war offensichtlich, dass er mich binnen einer Sekunde loswerden wollte.

„Was qualifiziert Sie eigentlich dazu, Libeskind, hier in Berlin zu bauen?“, wollte er wissen. Ich war sprachlos. Das war doch keine richtige Frage? „Welche Großbauten haben Sie errichtet, bevor Sie hierher kamen?“

„Herr Senator, es geht hier nicht um Großbauten ...“

„Ich sagte: Welche Großbauten haben Sie entworfen, die Sie dazu qualifizieren, dieses Museum zu bauen?“, schnitt er mir das Wort ab.

Es war leicht zu erkennen, was er vorhatte. Ich holte tief Luft. „Senator, wenn Sie sich nur daran orientieren, was in der Vergangenheit geschehen ist, dann hat Berlin keine Zukunft.“

Er sagte nichts. Irgendetwas, das mit dem Wort „Vergangenheit“ zu tun hatte, ließ ihn innehalten. „Gut“, meinte er und machte mit dem Kopf eine ruckartige Bewegung in Richtung meines Modells, „ist dies das Projekt?“

Ich nickte.

Er sah es sich sorgfältig an. „Wie komme ich in das Gebäude hinein?“

„Es gibt für Sie keine Tür, Senator. Für Sie gibt es keinen Zugang zu diesem Gebäude.“ Alle im Raum erstarrten. „Für Sie gibt es keine Tür“, fuhr ich fort, „weil man Zugang zur jüdischen Geschichte und zur Geschichte Berlins nicht durch eine herkömmliche Tür erhalten kann. Sie müssen einer viel komplexeren Route folgen, wenn Sie die Geschichte der Juden in Berlin, und damit auch die Zukunft Berlins, verstehen wollen. Zuerst müssen Sie weit in der Geschichte der Stadt zurückgehen, bis in ihre barocke Periode, und aus diesem Grund müssen Sie erst das Barockgebäude betreten.“

Nagel studierte das Modell erneut. Seine Züge glätteten sich, und er sagte: „Ihre Vergangenheit ist mir egal, Mr. Libeskind. Mir gefällt Ihr Stil. Ich lade Sie herzlich ein, in Berlin zu bauen.“

Dann gab er mir die Hand und ging.

* * *

1999 öffnete das Jüdische Museum seine Pforten – ohne jedes Ausstellungsstück. Das leere Museum war ein perfekter Ort für eine Feier, an der die höchsten deutschen Politiker teilnahmen, darunter auch Bundeskanzler Gerhard Schröder. Nach dem Diner kam Schröder an den Tisch, an dem mein Vater saß. Damit der neunzigjährige Nachman nicht aufstehen musste, kniete Schröder vor ihm nieder, nahm seine Hand und sagte:

„Mr. Libeskind, Sie müssen sehr stolz sein. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“

Welch ein Moment für Nachman – und für mich! In den Jahren meiner polnischen Kindheit hätte ich mir nie träumen lassen, dass eines Tages der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der Sohn eines im Zweiten Weltkrieg gefallenen Wehrmachtsoldaten, vor meinem Vater knien und ihm dafür danken würde, dass er nach Deutschland gekommen war.

Vorabdruck aus Daniel Libeskinds Biografie „Breaking Ground. Entwürfe meines Lebens“. Aus dem Englischen von Franca Fritz und Heinrich Koop. Das Buch erscheint am 4. Dezember im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln (320 Seiten, zahlr. Abb., 22,90 €).

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