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Kultur: Der Eismann kommt

Wahn der Zeit: Robert Wilson inszeniert am Berliner Ensemble Shakespeares „Wintermärchen“

Was ist die Zeit? Ein Viech? Ein Kinderspiel? Robert Wilson, dessen Theaterabende immer leichter, luftiger, ja gestaltloser werden, bietet lässige Allegorien an. Die Zeit, das ist ein pausbäckiges Kaninchen, das von oben herab kichernd auf einer imaginären Schreibmaschine klimpert, pling-pling. Die Zeit, das ist eine plappernde Riesenschildkröte, an der Rampe unterwegs von links nach rechts – oder eine Herde Schäfchen, die in einer Sternennacht, mäh-mäh, das Weite sucht. Das schönste dieser Bilder steht am Beginn des „Wintermärchens“, wenn sich das Publikum noch durch die engen Reihen drängt: Zwei kleine Jungs in Badeshorts plantschen mit einem riesigen Schöpflöffel in einem Brunnen. Wie geheimnisvoll sie grinsen! Die Zeit fließt, hüpft, kriecht. Am Ende aber, wenn bei Shakespeare sechzehn Jahre vergangen sind, wird sie im Kreis gegangen sein.

Die tote, totgeglaubt, engelsgleiche Königin Hermione kehrt ins Leben zurück, nicht aber ihr Sohn, und auch ein anderer, der es gut meinte, bleibt auf der Strecke. Aufgefressen von einem Bären (unter dessen Maske ein Kind steckt). Was für ein Leben das ist, das bei einem zu großen Seelenschmerz ausgeknipst wird wie eine Glühbirne, und was für ein Tod das ist, der einen Menschen wieder freigibt, darüber streiten sich seit Jahrhunderten die Shakespeare-Forscher. Eine Tragödie, dies „Wintermärchen“, eine große Romanze. Ein furchtbarer Wahn.

Wilson hat sich für die Komödie entschieden. Ein „Wintermärchen“ aus der Kiste des Vaudeville, mit Live-Musik. Die Band im Orchestergraben (Leitung und Komposition: Hans-Jörn Brandenburg) lärmt, treibt an, malt zarte Arabesken, spielt auf zum höfischen Tanz und barocken Schäferspiel, piekst und schubst die Schauspieler, als wären sie Marionetten, die auf Noten hören. Ein Soundtrack wie zu einem Stummfilm. Eine Choreografie, in der die Stimmen über Mikroports auf Spitzen laufen.

Zwei Jahre ist es her, dass Wilson am Berliner Ensemble „Leonce und Lena“ – Georg Büchners existenzialistische Shakespeare-Parodie – zum Musical aufhellte. Weil Wilson in Zyklen denkt und Form ihm alles bedeutet, schaut aus Shakespeare jetzt Büchner, der Entertainer, heraus. Das „Wintermärchen“ präsentiert sich als vergleichsweise sparsame Kreation. Fast ein Wandertheater, wäre da nicht Wilsons mörderisch anspruchsvolle Lichttechnik. Jacques Reynauds Kostüme – wieder diese gepanzerten Brustkleider mit zartem Sado-Maso-Touch – sind eine ärgerliche Wiederholung. Aus den Bühnenbildern sind die bunten Farben gewichen, es kommt eine dunkle Jahreszeit. Schlank stehen die Säulen, sie deuten nur an. Wenn Architektur gefrorene Musik ist, dann ist die Liebe ein kurzes Auftauen eiskalter Herzen. Ein Blick, ein Wort, und aus ist es mit dem Glück.

Diese Inszenierung gleicht einer Eistorte. Wilson legt Schichten von süßem Geflüster, von Tierfantasien, bilderbuchartigen Rüpeln, bukolischem Getändel übereinander, er lässt Gold regnen wie Puderzucker, der Sprachsirup fließt, es kitscht und quietscht in Sizilien wie in Böhmen, welches bei Shakespeare bekanntlich am rauen Meer liegt.

Robert Wilson, der 64-Jährige, erzählt das „Wintermärchen“ nicht nur als ein weihnachtsverdächtiges Märchenspiel, er erzählt es aus kindlicher Perspektive. Man lässt sich darauf ein, ist gerührt. Und rutscht weg auf dem glatten Eis. Träumt weiter! Leontes, der vor Eifersucht rasende König, ist der Verrückteste, Entrückteste. Zerstört seine nette Familie. Stefan Kurt zirkelt einen hellsichtigen Idioten hin. Er ist ganz unterhaltsam in seiner Destruktivität, und wie er all die Schicksalsschläge slapstickhaft überlebt.

Schauspielerisch ist vieles nicht sehr aufregend. Leontes’ Jugendfreund, der Böhmenkönig Polixenes, spreizt sich bei Tillbert Strahl-Schäfer wie eine fade Hofschranze. Wahrscheinlich waren es Leontes und Polixenes, die zu Anfang selig in der Wanne plantschten. Was ging schief? Das Traumprinzenpaar Perdita (Judith Strößenreuter) und Florizel (Alexander Doering) kommt direkt aus dem „Leonce und Lena“-Land des Lächelns. Einen Valerio gibt es hier auch: Wilson baut den Part des liebenswerten Gangsters Autolycos, von dem der Shakespeare-Exeget Harold Bloom sagt, er sei ein „englischer pastoraler Villon“, zu einer „Cabaret“-Conference aus. Dirk Ossig drückt mit seinen Witzchen aufs Tempo, er ist die Personifikation der Ungeduld, die das Publikum ergreift.

Robert Wilson selbst wird die Torte am Ende zu süß. Was soll das für ein Happy End geben mit Hermione, der Lazarus-Frau, der Statue, die sich vom Sockel löst (Sonja Grüntzig)? Leontes drückt gut gelaunt einem jeden ein Schlachtmesser in die Hand. Schnell die Kehlen durchgeschnitten. Blut fließt keines. Wahrscheinlich waren sie alle längst gestorben, vor der Zeit.

Es gibt Schauspieler, die können sie anhalten. Sie geben der Zeit eine andere Qualität. Walter Schmidinger, der alte böhmische Hirte: Er sagt einen Satz, zum Beispiel „Das ist ein Glückstag heut! Lass alle Schafe laufen“, und man empfindet – Theaterglück. Schmidinger spricht, und aus hoher, hingestellter Kunst wird etwas Erhabenes, das sich seiner Lächerlichkeit traumhaft bewusst ist. Man scheut sich vor dem Wort Schmiere. Aber es gibt im Theater viel zu wenig davon – von Schmidingers Rampengenialität, auch wenn er ganz hinten steht, mit seinem albernen Hut und Hirtenstab. Mit Schmidinger werden Märchen wahr.

Und man glaubt wirklich daran, wenn Angela Winkler, kaum zu erkennen in ihrer schrecklich strengen elisabethanischen Maske, plötzlich den Mund auftut. Sie spielt zum ersten Mal bei Wilson. Schenkt seinem „Wintermärchen“ das Herz. Hexe, gute Fee, Orakel. Paulina, die Schneekönigin, weiß zu verhindern, dass es ein „Wintermärchen“ unseres Missvergnügens wurde.

Wieder vom 1. bis 3. Oktober.

Rüdiger Schaper

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