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Kultur: Der endogene Kobold

Als Sachse in der Großstadt: Durs Grünbein wird mit dem Berliner Literaturpreis gefeiert

Es ist nicht leicht, schon mit 32 Jahren zum Kanon der deutschen Literatur zu gehören. Den Lyriker Durs Grünbein ereilte dieses Schicksal, als er 1995 mit dem Georg-Büchner-Preis das Eintrittsbillett für die Hall of Fame der deutschsprachigen Nachkriegsschriftsteller löste. Damals erklärte Grünbein bescheiden, lieber wüsste er den Preis in anderen Händen, so viel liege noch vor ihm. Nun, da ihm im Roten Rathaus der Berliner Literaturpreis verliehen wurde, kannte er vor allem eine Instanz, die älter und größer sei als er: die Poesie selbst.

In eine Eloge ans Poetische mündete Grünbeins Dankesrede. Zuvor aber hatte er – Ort und Anlass gemäß – das Loblied Berlins gesungen. Ein „Sack, in den seit Jahrhunderten viel hineingestopft wurde“, sei die Stadt. Berlin, das sei „der ganz große Bluff, ein täglich gebrochenes Versprechen“. Doch genau darin liege die Modernität: „dass man sich an nichts halten kann“. Ein Bekenntnis zu Moderne und Urbanität aus dem Munde Grünbeins irritiert. Denn es zitiert den Großstadtdichter, der Grünbein war, als er Ende der achtziger Jahre aus seiner Heimatstadt Dresden nach Ostberlin kam. Wegen der Nähe zum Westen und getrieben von einer „Sehnsucht nach Weltkultur“. In „Schädelbasislektion“ (1991) oder „Falten und Fallen“ (1994) dichtete eine Stimme jenseits des „Massakers der Illusionen“, von dem Volker Braun, Dresdner wie Grünbein, gesprochen hatte. Die Kritik war entzückt, konnte Grünbein weder dem Osten noch dem Westen zuschlagen. Seine Lyrik, von der alle Ideologie abgefallen zu sein schien, kümmerte sich ums anthropologische Substrat: die Materialität des Körpers in seiner Anatomie und seinen Nervenbahnen.

Von der Biologie als Leitwissenschaft und der Selbstbeschreibung als „poeta empiricus“ hat sich Grünbein seitdem weit entfernt. Eine „Drehung des Kopfes“ nennt er die poetologische Wende, die er mit „Nach den Satiren“ (1999) vollführte. Seitdem ist der Blick vor allem auf die römische Antike gerichtet. Fast möchte man meinen, Grünbein, dessen linkes Bein bei der Preisverleihung wegen einer Verletzung an der mythischen Achillessehne geschient war, sei sich selbst historisch geworden, wenn er, wie in „Erklärte Nacht“ (2002), Vergänglichkeit, Tod und Verfallsgeschichte mit stoischer Geschichtsphilosophie durchwebt. Das hat ihm nicht nur Bewunderer eingebracht. Dichterkollege Thomas Kling etwa sprach von „Sandalenfilmen aus den Grünbein-Studios“. Und „Porzellan“, eine Betrachtung der Dresdner Katastrophe vom Februar 1945 in antikisierenden Versen, wurde im vergangenen Jahr als „Kunstgewerbe“ kritisiert.

Deswegen war Martin Mosebach als Laudator gut beraten, Grünbein vor allem für sein großes Erzählgedicht „Vom Schnee oder Descartes in Deutschland“ (2003) zu loben. Hier, wo die Geburtsstunde des neuzeitlichen Rationalismus gleichermaßen gelehrt wie sinnlich verhandelt wird, sieht Mosebach einen Lyriker am Werk, der aus durchaus unpoetischem Material große Gesänge verfertigt. Das sei es, was ein Staat, der Dichtern Preise verleiht, von ihnen erlangen könne: Aufklärung über die poetische Grundierung des Daseins. Zumal der preußische Staat, dem Mosebach zu Recht traditionelle Frostigkeit gegenüber seinen Dichtern attestierte. Umso erfreulicher sei, dass die Stiftung Preußische Seehandlung, die Preußen immerhin im Namen führt, die opulente Preissumme von 30 000 Euro bereitstellt. Und dass „ein preußischer Literaturpreis an einen dahergelaufenen Sachsen geht, dazu noch einen Dichter“ (Grünbein über Grünbein).

Verbunden ist der Literaturpreis, der in seiner jetzigen Form zum zweiten Mal vergeben wird, mit einer „Heiner-Müller-Professur für deutschsprachige Poetik“. Im Sommer wird Grünbein an der Freien Universität ein Kolleg für studentische Autoren abhalten. Dabei folgt die Preisvergabe einer untergründigen Logik: Es war Heiner Müller, der Grünbeins ersten Gedichtband „Grauzone morgens“ (1988) an den Suhrkamp Verlag vermittelte. Und Müller war es, der den Büchner-Preisträger in seiner Laudatio als Angehörigen einer Generation feierte, „die Geschichte nicht mehr als Sinngebung des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur noch als sinnlos begreifen kann“. Grünbeins Bild vom Dichter als „endogenem Kobold“, der alles Material der Welt zu Poesie formt, hätte Müller vermutlich gefallen.

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