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Kultur: Der Erpresserstaat

Am Sonntag hat die Ukraine die Wahl zwischen Diktatur und dem Anschluss an Europa / Von Mykola Rjabtschuk

Ljudmila Iwanowna verkauft seit fast 20 Jahren Zeitungen in einem Kiewer Kiosk. Für gewöhnlich liest sie die Blätter und wirkt dabei fast so kompetent in ihrem politischen Sachverstand wie ein Profi. Sie unterstützt die Kommunisten und verabscheut die Oligarchen. Nie hat sie die Demokraten für eine echte Alternative gehalten. Zum einen glaubte sie, es handle sich um „Nationalisten“, zum anderen schienen sie ihr nur korrumpierte Verbündete der Oligarchen zu sein.

Bei den Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag will sie Viktor Juschtschenko ihre Stimme geben, obwohl er von der regierungstreuen Propaganda als wütender Nationalist und Jünger Amerikas dargestellt wird. („Er hat eine amerikanische Frau!“, sagt man.) Aber Ljudmila Iwanowna glaubt, dass sein Sieg der einzige Weg ist, die Verhältnisse in dem von Oligarchen ausgeplünderten Land wieder in Ordnung zu bringen. „Wenn sie ihn so sehr hassen“, sagt sie, „muss er eine Bedrohung sein. Und nur eine aufrichtige Person kann für sie eine Bedrohung sein. Wenn sie nur irgendetwas gegen ihn in der Hand hätten, dann läge er schon tief unter der Erde.“

Ljudmila Iwanowna scheint das Wesen des Regimes erkannt zu haben, das sich in der Ukraine so etabliert hat wie in anderen post-sowjetischen Staaten, wo die altneue Nomenklatura regiert. Der amerikanische Politologe Keith Darden charakterisiert das System treffend als „Erpresserstaat“. Solch ein Staat, erklärt er, stützt sich auf drei Säulen. Erstens: Die Regierung toleriert und fördert Korruption. Zweitens: Der Erpresserstaat überwacht akribisch seine Bürger. Was die Korruption begünstigt, denn Polizei, Staatssicherheit, Finanzamt und Steuerpolizei sammeln darüber schriftliche Belege. Drittens: Die Regierung übt sich in selektivem Recht. So lange man gehorsam bleibt, werden Verfehlungen toleriert. Sobald man sich illoyal zeigt, stürzt sich das Gesetz mit aller Gewalt auf ihn.

Das System scheint ziemlich effizient zu sein. Die Regierung korrumpiert die politisch und ökonomisch aktive Minderheit und manipuliert die stille Mehrheit durch die monopolisierten Massenmedien. In der Ukraine jedoch scheint dieses perfekte System zu scheitern. Einerseits wurde Präsident Leonid Kutschma, der Haupt-Architekt des ukrainischen Erpresserstaats, selbst Opfer der Überwachung und der Suche nach kompromittierendem Material: Ende 2000 machte sein Bodyguard, Bürgermeister Mykola Melnytschenko, geheime Bänder publik, die angeblich im Büro des Präsidenten aufgenommen worden waren: Gespräche zwischen Kutschma und seinen in Verbrechen verwickelte Komplizen.

Im Dezember 1991wurden die ersten „relativ“ freien Präsidentschaftswahlen abgehalten – zu einer Zeit, als die demokratischen Kandidaten nur ein Drittel der Stimmen erhielten, während zwei Drittel an den ehemaligen Kommunistenführer Leonid Krawtschuk gingen. Die Gesellschaft war zu schwach, um den autoritären Staat in eine liberale Demokratie umzugestalten wie die baltischen und zentral-osteuropäischen Nationen. Sie war aber auch stark genug, um die autoritären Tendenzen einzudämmen und die Wiederkehr eines Autoritarismus auf der ganzen Linie zu verhindern.

Ende der 90er Jahre wurde der oligarchische Charakter des Regimes offenkundig. 2001 erhielten die ukrainischen Demokraten den populären ehemaligen Premierminister Viktor Juschtschenko als neuen Führer, der ironischerweise gefeuert wurde, nachdem er die Korruption eingedämmt und den zehn Jahre währenden ökonomischen Verfall beendet hatte.

Anders als sein Vorgänger Wiatscheslaw Tschornowil, der zwei Jahre vorher bei einem dubiosen Autounfall das Leben verloren hatte, war Juschtschenko nicht politisch involviert. Sowohl als Leiter der Nationalbank wie als Premierminister hatte er das Image eines apolitischen Technokraten. Damit konnte er eine politische Ausgrenzung leichter vermeiden, die erfolgreich gegen Tschornowil und dessen Verbündete eingesetzt wurde. Aber bei ihm funktionierte diese Propaganda schlecht. 2002 gewann Viktor Juschtschenko mit seinem Block „Nascha Ukrajina“ (Unsere Ukraine) die Parlamentswahl, verpasste aber die Mehrheit – weil er die Niedertracht des Erpresserstaats unterschätzte. Fast alle businessmen, einschließlich der Abgeordneten, schlugen sich auf die Seite der Regierung, um die juristische Verfolgung oder gar Haftstrafen zu vermeiden.

Die Schmutzkampagne gegen Juschtschenko und seinen Block dauert an. Die Regierung kann sich auf die volle Kontrolle über die Massenmedien verlassen, da die drei größten TV-Stationen unter der Aufsicht des Leiters der präsidentiellen Administration Viktor Medwedtschuk stehen, und die drei nächstgrößeren Stationen mit ihrer landesweiten Ausstrahlung dem Schwiegersohn des Präsidenten, Viktor Pintschuk, gehören. Die Regierung kann sich auf eine folgsame Judikative verlassen, die sich angeblich ganz in Medwedtschuks Hand befindet. Sie kann sich auf die Exekutivorgane verlassen, die direkt dem Präsidenten untergeordnet sind. Sie kann sich auf Russland verlassen – sein Geld, die Medien und, leider, auf den starken diplomatischen Einfluss westlicher Organisationen.

Alles ist erlaubt in der ukrainischen Wahlkampagne. Es ist erlaubt, Juschtschenkos „Nascha Ukrajina“-Block als „naschisty“ zu bezeichnen, was nicht nur auf Ukrainisch nach „nazistisch“ klingt. Überall Plakate, TV-Spots und Flugblätter, die Juschtschenkos Gesicht mit Bushs Gesicht darunter abbilden, oder Bush als Cowboy, der die Ukraine als Pferd reitet. Es waren Juschtschenko und seine Freunde, so die Propaganda, die ukrainische Truppen in den Irak geschickt haben – und nicht Leonid Kutschma, der die Amerikaner nur zu beruhigen versuchte nach dem skandalösen Versuch, die Radarsysteme „Koltschuga“ illegal an Saddam Hussein zu verkaufen.

Juri Andruchowytsch, der im Westen prominenteste ukrainische Schriftsteller, glaubt, die Ukraine habe bereits unter einem „nicht angekündigtem Kriegsrecht“ gelebt. Jeden Tag mehren sich die Berichte über schließende Medienunternehmen, zusammengeschlagene Journalisten, drangsalierte und eingeschüchterte oppositionelle Aktivisten, oppositionelle Hauptquartiere, die von unbekannten „Kriminellen“ attackiert werden, treuebrüchige Geschäftsmänner, deren Existenz vernichtet wird, Juschtschenko-Treffen, die durch lokale Behörden blockiert werden, NGO-Räume, in denen die Polizei Sprengstoff findet (oder Drogen oder gefälschte Dollars), was – natürlich – alle Fernsehkanäle zeigen. Eine Salamitaktik. Wenn die Behörden all das auf einmal tun würden, müssten sie mit starken internationalen Sanktionen rechnen.

Die Elite der ukrainischen Oligarchie hat in der Tat viel zu verlieren, für den Fall, dass ihre Reiseprivilegien aufgehoben werden und ihr gewaschenes Geld in westlichen Banken eingefroren wird. Deshalb betreiben sie eine doppelgleisige Politik, die nach Moskau und dem Westen schielt, zuallererst aber die eigenen Clan-Interessen befriedigt. Bei den ukrainischen Wahlen steht viel auf dem Spiel. Im Gegensatz zu den Wahlen von 1994 und 1999, als verschiedene Clans der postsowjetischen Nomenklatura gegeneinander antraten, bedeuten die Präsidentschaftswahlen von 2004 nun die (eine) dramatische Entscheidung zwischen dem alten Regime, das alte sowjetische Stereotypen benutzt und von alten Ängsten profitiert, und den neuen demokratischen Kräften, die die viel versprechende Europäisierung des Landes mit bangen Gefühlen einläuten.

Keiner scheint aufzugeben – weder die parasitäre Elite, die den Staat erobert hat und die Gesellschaft ins Abseits zu drängen versucht, noch die Gesellschaft, die sich endlich ihrer Stärke bewusst wird und sagt: „Wir sind das Volk“.

Der Autor, 1953 geboren, lebt in Kiew. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Krytyka“, die sich an der „New York Review of Books“ orientiert, und Autor viel diskutierter Bücher über die Zukunft der Ukraine. – Aus dem Englischen von Ramon Mirfendereski und Katharina Wagner.

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