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Handyfilm als Beweis. Ein Polizist in South Carolina legt auf Walter Scott an, schießt ihm in den Rücken. Der Beamte ist wegen Mordes angeklagt.

© AFP

Der Fall Walter Scott und Polizeigewalt gegen Schwarze: „Wir haben ein Polizeiregime in den USA“

"Auf der Flucht" - so heißt das Buch der US-Soziologin Alice Goffman über Polizeigewalt gegen Schwarze. Im Tagesspiegel-Gespräch erzählt sie von der Zweiklassen-Justiz in Amerika und von ihrer Hoffnung auf eine neue Protestkultur im Land.

Frau Goffman, in Ihrem Buch „On the Run“ beschreiben Sie den harten Alltag in der 6th Street, einer Gegend von Philadelphia, in der überwiegend Afroamerikaner wohnen. Wie haben Sie dort Ihren ersten Tag als junge, weiße Soziologin erlebt?

Ich wollte den Kindern einer afroamerikanischen Bekannten Nachhilfe geben, sie leben in einer Gegend mit 98 Prozent schwarzer Bevölkerung. Als ich die Straße hinaufging, fragte mich ein Mann, ob ich Polizistin oder Bewährungshelferin sei. Er sagte, für eine junge, weiße Frau gebe es sonst keinen Grund, in dieser Gegend herumzulaufen. Die Leute dort haben mir am Anfang einfach nicht vertraut. Warum sollten sie auch?

Wie sieht die Situation der Menschen in Gegenden wie der 6th Street aus?
Besonders junge Männer gehen hier nicht zur Schule, denn sie sitzen im Gericht und müssen sich mit Bewährungsauflagen und Geldbußen herumschlagen. Sie landen immer wieder im Gefängnis. In einem Land, dass offiziell den Rassismus abgeschafft und sogar einen Schwarzen zum Präsidenten gewählt hat, sind wir mit einem Polizeiregime konfrontiert, das die Ärmsten und Menschen mit dunkler Hautfarbe einsperrt.

Können Sie das genauer beschreiben?

Alice Goffmans neues Buch beschäftigt sich mit der Zweiklassengesellschaft im US-amerikanischen Justizsystem.
Alice Goffmans neues Buch beschäftigt sich mit der Zweiklassengesellschaft im US-amerikanischen Justizsystem.

© University of Wisconsin - Madison

In den es USA gibt es heute es zwei unterschiedliche Justizsysteme – eines für die weiße Mittelklasse und eins für arme Schwarze. Manchmal liegen diese Systeme nur ein paar Blocks voneinander entfernt. Im System für Schwarze rollen Spezialeinheiten in Panzerwagen durch die Blocks und sammeln massenweise Leute ein. Während meiner ersten eineinhalb Jahre in der 6th Street habe ich erlebt, wie die Polizei täglich Fußgänger und Autofahrer anhielt, durchsuchte, ihre Namen nach offenen Haftbefehlen prüfte und oft anschließend verhaftete. Und ich habe gesehen, wie Polizisten junge Männer nach ihrer Verhaftung verprügelt, getreten und gewürgt haben.

Wie unterscheiden sich beide Systeme? 
Chuck, einer der Jungs, die ich während meiner Recherche kennen gelernt habe, hat es bis ins letzte Jahr der High School geschafft und war bis dahin nie mit dem Gesetz in Berührung gekommen. Eine echte Ausnahme! Seine Mutter hatte Drogenprobleme. Im Winter seines letzten Jahres an der High School, kurz nach seinem 18. Geburtstag, nannte ein Junge auf dem Schulhof Chucks Mutter eine drogensüchtige Schlampe. Er schubste ihn in den Schnee. Die Schulpolizisten haben ihn deshalb wegen schwerer Körperverletzung festgenommen. Er wurde angeklagt, musste ins Gefängnis, ihm fehlte Geld, um auf Kaution freizukommen. Als er nach ein paar Monaten nach Hause kam und wieder zur Schule gehen wollte, wurde er abgewiesen: Er sei jetzt zu alt. Chuck hat deshalb heute nicht mal einen Schulabschluss.

"Zuweilen sitzt die Hälfte der Familie hinter Gittern"

Am Tatort haben Bürger einen kleinen Schrein zum Andenken an Walter Scott errichtet.
Am Tatort haben Bürger einen kleinen Schrein zum Andenken an Walter Scott errichtet.

© dpa

Wie wäre es Chuck gegangen, wenn er so aufgewachsen wäre wie Sie?
Wenn er auf meine High School gegangen wäre, hätte der Streit auf dem Schulhof dort auch geendet – ganz ohne rechtliche Konsequenzen. Keiner der Leute, mit denen ich zur Schule gegangen bin und später an der Uni war, ist heute vorbestraft. Man muss sich mal vorstellen, wie viele von ihnen heute Vorstrafen hätten, wenn die Polizisten auch sie nach Drogen durchsucht oder mitten in der Nacht ihre Partys gestürmt hätten.

Die Geschichten in Ihrem Buch sind Geschichten von Frustration, Trauer und Wut. Wie konnte es soweit kommen?
Die Probleme, die sich aus der rassenbedingten Armut ableiten, ziehen sich durch das gesamte 20. Jahrhundert: Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, niedrige Gehälter, Familienprobleme, mangelnde Bildung. Diese Probleme gibt es seit dem Ende der Sklaverei. Der schwarze Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois schrieb schon im Jahr 1899 über den Zusammenbruch von Familien und die Arbeitslosigkeit schwarzer Männer. Verändert hat sich seitdem wenig, nur unser Justizsystem ist brutaler geworden.

Inwiefern?

Alice Goffmans neues Buch beschäftigt sich mit der Zweiklassengesellschaft im US-amerikanischen Justizsystem.
Alice Goffmans neues Buch beschäftigt sich mit der Zweiklassengesellschaft im US-amerikanischen Justizsystem.

© University of Wisconsin - Madison

Bis in die sechziger Jahre hielt sich die Zahl der Verhaftungen in Amerika stabil. Doch in den Siebzigern ist sie explodiert. Heute sperren wir 700 Prozent mehr Menschen ein als vor vierzig Jahren. Wenn man diese Zahlen mit Europa vergleicht, wird deutlich, was das bedeutet: Pro 100 000 Einwohner stecken wir 716 ins Gefängnis, in Europa sind es 100 oder weniger. Diese Massenverhaftungen betreffen vor allem Gegenden, in denen viele Schwarze wohnen. Durch diesen Mechanismus wird für die Betroffenen alles schlimmer: Niemand stellt jemanden ein, der vorbestraft ist. Und wie soll man einen starken Zusammenhalt in der Familie aufbauen, wenn die Hälfte der Familie hinter Gittern ist?

In Ihrem Buch beschreiben sie einen rassistischen Polizeistaat. Das Wort Rassismus selbst benutzen Sie jedoch nie. Warum?
Ich will die Leben der Menschen darstellen und meine Leser selbst Schlüsse daraus ziehen lassen. Sie sollen selbst beurteilen, ob sie etwas rassistisch finden oder nicht. Wenn jemand den Schluss zieht, dass wir es in Amerika mit einem rassistischen System zu tun haben, ist das fantastisch.

Vergangene Woche wurde der unbewaffnete Schwarze Walter Scott im US-Bundesstaat South Carolina von einem Polizisten erschossen. Alle paar Wochen gibt es diese Meldungen. Überrascht Sie das noch?
Menschen, die in Gegenden wie der 6th Street aufwachsen, sind von diesen Vorfällen nicht überrascht. Für mich ist es unglaublich zu sehen, dass nach den zahlreichen Todesschüssen von Polizisten auf schwarze Jugendliche eine echte Protestkultur entstanden ist. Möglicherweise sind wir gerade an einem Wendepunkt im Umgang mit Polizeigewalt gegen Schwarze: Viele Bundesstaaten verhaften schon jetzt weniger Menschen, der Krieg gegen die Drogen wird allmählich zurückgefahren. Sogar im tief gespaltenen Kongress arbeiten Linke und Rechte zusammen, um weniger Leute hinter Gitter zu bringen. Das ist ein Wunder.

"Schwarze Männer sind keine Feinde, die weggesperrt werden müssen"

Auch in Deutschland – wie hier vor der US-amerikanischen Botschaft – demonstrieren Menschen gegen Rassismus unter dem Motto "Solidarität mit Michael Brown", der in der US-Stadt Ferguson von einem Polizisten erschossen worden.
Auch in Deutschland – wie hier vor der US-amerikanischen Botschaft – demonstrieren Menschen gegen Rassismus unter dem Motto "Solidarität mit Michael Brown", der in der US-Stadt Ferguson von einem Polizisten erschossen worden.

© dpa

Woher kommt dieser Wandel?
Bis zu der Erschießung des jungen Schwarzen Mike Brown gab es diese Diskussionen nicht. Der Ermittlungsbericht über die Versäumnisse von Ferguson hat die Leute aufgerüttelt: Der Bericht liest sich wie eine Anklage gegen eine tief rassistische Polizei. Im Fall von Walter Scott wird der Polizist dieses Mal sogar angeklagt. Das ist eine riesige Neuheit.

Was muss sich ändern?
Wir brauchen ein Justizsystem, das an das Potenzial junger schwarzer Männer glaubt, statt sie als Feinde anzusehen, die weggesperrt werden müssen. Polizisten müssen Teile der Gemeinschaft sein, in der sie arbeiten. Und sie sollten sich mehr wie Sozialarbeiter verhalten. Um befördert zu werden, muss ein Polizist bislang eine gewisse Anzahl von Verhaftungen und eingetriebenen Bußgeldern vorweisen können. Das muss aufhören. Polizisten müssen buchstäblich im Dienst der Öffentlichkeit stehen.

Sie reisen mit Ihrem Buch durch die USA. Wie reagieren die Leser?

Ich bekomme viele Briefe von Leuten, die im Gefängnis sitzen. Ein Insasse aus San Diego hat mir geschrieben, dass das Buch auch in seiner Stadt spielen könne, das Gleiche passiere bei ihm zuhause. Er sitzt seit zehn Jahren im Gefängnis, liest jede Woche ein Buch. Erstmals hat er jetzt über seine eigene Wirklichkeit gelesen. Und viele Weiße sagen, dass sie gar nicht wussten, dass so etwas in Amerika passiert.

Gibt es auch negative Reaktionen?
Die größte Kritik ist wohl, dass die Geschichten von der 6th Street Vorurteile schwarzer Kriminalität bestätigen würden: Im Buch kann man von Schwarzen lesen, die Crack rauchen, in gewalttätige Auseinandersetzungen geraten und Drogen verkaufen. Manche sagen: Wir brauchen nicht noch eine Weiße, die so ein Buch schreibt. Ich nehme diese Kritik ernst. Aber es ist doch so: In Amerika haben wir das aufwändigste und teuerste Gefängnissystem der Geschichte und eine Polizei, die für alles, was sie macht, ungestraft davon kommt. Dieses System konzentriert sich auf die Menschen, die keine Ausbildung, keinen Universitätsabschluss haben, drogensüchtig sind und oft aus Verzweiflung illegal Geld verdienen. Diese Leute kämpfen um ihre Existenz, mitten in Amerika. Wir müssen alles tun, um junge Menschen in Zukunft davor zu schützen.

Alice Goffman, 1982 in Philadelphia geboren, lehrt Soziologie an der University of Wisconsin-Madison. Im Verlag Antje Kunstmann ist gerade ihr Buch On the Run – Die Kriminalisierung der Armen in Amerika erschienen (Aus dem Englischen von Noemi von Alemann u. a., 368 Seiten, 22,99 €). In den USA hat es hymnische Rezensionen erhalten.

Alice Goffmans neues Buch beschäftigt sich mit der Zweiklassengesellschaft im US-amerikanischen Justizsystem.
Alice Goffmans neues Buch beschäftigt sich mit der Zweiklassengesellschaft im US-amerikanischen Justizsystem.

© University of Wisconsin - Madison

Paul Middelhoff

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