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Eco-Roman "Der Friedhof in Prag": Der falsche Fälscher

UMBERTO ECO entfaltet in seinem Großroman „Der Friedhof in Prag“ ein Panorama historischer Verschwörung

Dieser Bursche mit Namen Simone Simonini ist ein ziemlicher Drecksack. Ein Lügner und Betrüger, ein Frauen- und Judenhasser, gemeiner Denunziant und hinterhältiger Killer. Bei seinen Untaten in einem von Kriegen und Freiheitskämpfen zerrissenen Italien und einem noch von keiner Belle Époque vergoldeten, eher finsteren Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verströmt er nicht den schwarzen Glanz eines Shakespeare- Schurken. Auch zum genialischen Monster wie einst beim Mädchenmörder Grenouille in Patrick Süskinds „Parfüm“ reicht’s hier nicht hin. Dafür besitzt Simonini, dessen Initialen ein SS ergeben, allerdings die Gefühlskälte eines künftigen, technokratischen Massenmörders.

Mieser geht’s nimmer. Und doch legt uns der bald achtzigjährige Umberto Eco, ein so fabelhaft gebildeter wie zugleich liebenswürdig kultivierter Geist, diesen mit allen Wassern der Kloake gewaschenen Unhold als Romanheld und Ich-Erzähler – ans Herz? Nein, dahin wohl nicht. Aber er gibt ihn seiner weltweiten Fangemeinde doch auf über 500 Seiten seines neuen Buchs in den Sinn. In den Hintersinn. Das ist vertrackt.

Ecos soeben auf Deutsch erschienenes Opus „Der Friedhof in Prag“, wie gewohnt vorzüglich übersetzt von Burkhart Kroeber, nähert sich in der italienischen Originalausgabe bereits der Millionenauflage und ist auf dem Sprung in die internationalen Bestsellerlisten. Und wie immer seit seinem vor drei Jahrzehnten erschienenen „Namen der Rose“ entfaltet Umberto Eco ein historisches Panorama. Mit zahllosen politischen, literarischen, sozial- und kulturgeschichtlichen Anspielungen. Die Hauptfigur Simonini, 1830 im oberitalienischen Piemont geboren (der Heimatregion Umberto Ecos), erklärt sich von Anfang an zum leidenschaftlichen Antisemiten. Obwohl Simonini selber lange Zeit keine Juden persönlich kennt, haben ihm schon die Erzählungen seines Großvaters die Mär von unheimlichen Christusmördern, Wucherern und Menschheitsverderbern in die Kindheitsträume eingegeben.

Sein Leben, das er in einem Tagebuch eröffnet, wird so früh zum Zeugnis eines obsessiven Misanthropen. Als katholischer Kirchenzögling ein Agnostiker, später als Jurastudent, als Notar und endlich als Urkundenfälscher, Geheimdienstspitzel und Doppelagent der Italiener, Franzosen, Russen und Deutschen kennt er bald nur noch ein Lebensmotto: „Odi ergo sum“ – Ich hasse, also bin ich. Und Signor Simonini sprüht gerne Gift und Galle: gegen die treulos intriganten Italiener, die habgierigen und gewalttätigen Franzosen, die verschlagenen Engländer, die wegen ihres Bier- und Schweinswurstkonsums stinkenden und furzenden Deutschen; gegen die Frauen, denen man so wenig wie den Deutschen je auf den Grund komme, gegen Juden, Neger oder Mulatten sowieso, aber auch gegen Freimaurer und Jesuiten: „Die Jesuiten sind Freimaurer in Frauenkleidern.“

Simoninis erste Gier gilt dem Gaumen, denn: „Gutes Essen hat mich schon immer mehr befriedigt als Sex. Vielleicht eine Folge meiner Erziehung durch Priester.“ Seine zweite Wollust wird die Verschwörung, die Täuschung, die Maskerade. Simonini markiert im italienischen Unabhängigkeits- und Einigungskampf den Mitstreiter Garibaldis, den er 1860 auf Sizilien begleitet. Schon das ist ein Doppelspiel für den piemontesischen, royalistischen Geheimdienst – eine Karriere, die er, als seine Identität aufzufliegen droht, in Paris im Frankreich Napoleons III. fortsetzt.

Während des Aufstands der Pariser Kommune geht er, nein: schleicht er 1871 über die Leichen der Kommunarden, er wird verwickelt in die Affaire um den fälschlich der Spionage für die Preußen bezichtigten Hauptmann Dreyfus und arrangiert sich nach der Niederlage Frankreichs gegen die Deutschen mit den verhassten Siegern. Doch auch dies wiederum im Auftrag der frisch gewendeten Franzosen. Als er in den Straßen von Paris unter den standrechtlich Erschossenen während der Unruhen 1871 auch seinen früheren Chef entdeckt, notiert Simonini trocken: „Die Dienste hatten angefangen, sich zu erneuern.“

Im Kern des von historischen, gleichwohl dubiosen Ereignissen und Personen wimmelnden Romans steckt freilich eine Konspiration, bei der sich Einbildung und Realität in mehrfachem Sinne mischen und verwirren. Es geht um die „Protokolle der Weisen von Zion“. Dieses Traktat gibt vor, eine geheime Zusammenkunft von Rabbinern aus vielerlei Ländern auf dem alten Jüdischen Friedhof von Prag und ihre dort beschlossene politische, ökonomische, kulturelle Weltverschwörung zu dokumentieren („Unsere Losung ist Macht und Hinterlist“). Zuerst Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland vermutlich auf Geheiß des zaristischen Geheimdienstes erschienen, wurden die „Protokolle“ alsbald in der ganzen Welt verbreitet.

Die evidente Fälschung wurde 1921 durch die Londoner „Times“ entlarvt. Doch galt sie fanatischen Antisemiten weiterhin als Beleg allen angeblich jüdischen Unheils. Hitler bestand in „Mein Kampf“ auf der Authentizität des Textes, die Berliner Mörder von Außenminister Walter Rathenau wurden durch das Pamphlet beeinflusst, und noch heute berufen sich arabische und iranische Fernsehsender bei ihren antizionistischen Propaganda auf das Fantasma von einst.

Auch Umberto Eco hat sich 1992/93 in einer seiner Vorlesungen als Gastprofessor in Harvard mit dem Gespinst beschäftigt. Das kann man in Ecos 1994 auf Deutsch erschienenen Aufsatzband „Im Wald der Fiktionen“ nachlesen. Schon damals taucht dort ein – zeitlich allerdings früher datierter – Hauptmann Simonini auf, und Eco weist mehrere Vorlagen der „Protokolle“ nach: etwa die Trivialromane Eugène Sues, eine Satire des Autors Maurice Joly oder ein unter britischem Pseudonym 1868 publizierter Schauerroman des deutschen Postbeamten Hermann Goedsche.

All diese Typen und viele andere spuken jetzt auch durch den „Friedhof in Prag“. Eco hat aus einem kurzen luziden Essay einen luziferischen Großroman gemacht und den eher fadenscheinigen Stoff nochmals neu gesponnen. Die Spinne im Netz ist nun der Fälscher, Judenfeind und Konspirator Simone Simonini. Offenkundig aber jongliert Eco dabei mit dem Zeitgeist von heute, mit der Lust an Agenten- und Stasigeschichten, mit der seit Nine-Eleven sprunghaft gestiegenen Lust an Verschwörungstheorien.

Selbst den „Illuminati“ seines Kollegen Dan Brown erweist Eco achtungsvolle Referenz, und es gibt bereits terroristische Sprengstoffattentate und Anschlagspläne gegen die im Bau befindliche Pariser Metro. Selbst der Begriff der „Endlösung“ ist hier schon im Schwange.

Das wirkt ziemlich gewollt. Umberto Ecos Problem birgt freilich sein Held. Als Schurke ohne Furcht und Zweifel ist er Mensch ohne innere Widersprüche. Ein Bösewicht ohne Geheimnis, Grund oder Abgrund. Das macht diesen so aufwendig inszenierten Meisterfälscher selber zum Falsifikat, gleichsam zu einer künstlichen Fiktion. Er wirkt in all den historischen Kulissen, weil ganz fleisch- und seelenlos, nur wie ein Schatten.

Nur in einer Hinsicht zeigt Eco einen koketten, stellenweise auch kühnen Witz. Hatte er sich bei früheren „guten“ Fälschern und Lügnern – etwa mit seinem piemontesischen Landsmann Baudolino im gleichnamigen Roman – gerne ein flunkernd fabulierendes Alter Ego geschaffen, einen Alter Eco, so wählt er diesmal das krasse Gegenbild. Das böse, banale Ekelego seines Erzählers besticht allein durch seine völlige Skrupellosigkeit. Ecos Roman ist eine Komödie der Amoral, die mit dem Auftritt des jüdischen Doktors „Froide“ auch die Psychoanalyse und Traumdeutung parodiert. Simonini, der sich zudem einen romantischen Doppelgänger erschafft oder einbildet und sich womöglich noch selber als Jude erweisen könnte, er arbeitet mit Projektionen von Hass und übertragenem Selbsthass. So zumindest ließen sich seine Obsessionen erklären. Doch seine erzählerische Oberfläche bleibt glatt, kalt, ohne doppelten Boden.

Sie ist das Parkett, auf dem Umberto Eco dieses Spiel mit dem Hässlichen inszeniert. Sein Held sagt einmal, als ihm von einem anderen dessen üble Nachrede hinterbracht wird: „Mir war schon als Schüler beigebracht worden, dass sich die Erzähler in ihren Personen immer selbst beschreiben.“ Eco, der weltberühmte Literaturprofessor und Theoretiker des Schönen, hat sich zumindest hiermit einen großen private joke geleistet.

Umberto Eco

Der Friedhof von Prag. Roman. Aus dem

Italienischen von

Burkhart Kroeber.

Carl Hanser Verlag,

München 2011.

524 Seiten, 26 €.

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