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Kultur: Der finale Terror

Selbstmordattentäter stellen die Zivilisation auf die Probe. Was aber tun, wenn es den perfekten Schutz nicht gibt?

Der Schrecken nimmt kein Ende, noch lange nicht. Gestern haben Selbstmordattentäter wieder in Moskau und im irakischen Mossul zugeschlagen, und mit den Bomben von Istanbul ist die neue Strategie des Terrors auch Europa nahe gerückt. Galt einst die Atombombe als unheimlichste und zugleich exklusivste Drohung der Moderne, sind es spätestens seit dem 11. September 2001 die gespenstisch einfach verfügbaren Waffen der Selbstmordkrieger.

Das Horrible der nuklearen Kriegstechnik lag in der möglichen Selbstauslöschung der Menschheit. Weil dabei die Parteien des Kalten Krieges den jeweils eigenen Untergang befürchten mussten, funktionierte die Rationalität der gegenseitigen Abschreckung. Im heißen Kleinkrieg des neuen, globalen Terrorismus aber ist diese auf den normalmenschlichen Überlebenstrieb gegründete Rationalität aufgehoben. Explodiert. Fast jede konventionelle Prävention scheitert schon daran, dass die Selbstmordattentäter immer seltenerer die kriegsüblichen „harten“ Ziele des militärisch hoch überlegenen Gegners angreifen, sondern mit dem Tod möglichst vieler Zivilisten die politische, gesellschaftliche Moral des Gegners zu zerrütten suchen. Die eigentliche Herausforderung aber ist die unabschreckbare und in unsere anthropologischen Grundannahmen nicht mehr integrierbare Bereitschaft zur Selbstzerstörung.

Jean-Paul Sartre hatte das Absurde des Suizids in seinem Baudelaire-Essay einst am Beispiel des Selbstmordspielers beschrieben. Das Absurde ist: Dem Täter entgehen die Früchte seiner Tat. Nun jedoch kehrt sich das vermeintlich Absurde gegen die aufgeklärte Vernunft der säkularen Zivilisation. Der für alle, die am Leben hängen, so schwer begreifliche Wahnsinn hat Methode und beweist immer wieder seine fürchterliche Effizienz. Im Herr-Knecht-Beispiel in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ war der Herr, trotz seiner Degeneration, dem in die Ketten seines „unglücklichen Bewusstseins“ geschlagenen Knecht noch darin überlegen, dass er über sein eigenes Leben hinausschauen konnte.

Jetzt indes schlagen die „Knechte“ – im Gewand von fundamentalistisch religiösen oder kriminell idealistischen „Freiheitskämpfern“ – gegen die Herren der Moderne zurück, und die blutige Archaik ihrer Mittel wird zum letzten Schrei wider jene Hightech-Gesellschaften, die keinen Gotteslohn im Jenseits kennen. Angesichts dieser militärischen und moralischen Asymmetrie zwischen den Standards hochgerüsteter Industriegesellschaften und dem Selbstmordterror von arabischen oder asiatischen Islamisten, von Tschetschenen oder palästinensischen Freischärlern hat der Berliner Politologe und Kriegsforscher Herfried Münkler in einem bedenkenswerten Essay ( Tagesspiegel vom 25.11. ) eine völlig neue Kriegs-Friedenstechnik vorgeschlagen: Der angegriffene Westen könne sich gegenüber möglichen Selbstmordattentaten neben der üblichen militärischen, geheimdienstlichen oder polizeilichen Gegenwehr nur durch „heroischen Gleichmut“ wappnen.

Münklers Vorschlag erscheint auf den ersten Blick recht einleuchtend. Denn die erfolgreichsten Selbstmordattentate auf Zivilisten zielten dabei auf die Symbole und auf die Seelen der Angegriffenen – am deutlichsten war dies in New York am 11. September. Massenpanik, Alltagsängste und (überwiegend psychologische) Folgeschäden der Weltwirtschaft markieren neben der (Selbst-)Mordlust die Erfolgsbilanz des Al-Quaida-Terrors. Hiergegen helfe, so Münkler, nur eine Art kollektiver, autosuggestiver Immunisierung: der heroische Versuch, sich nicht über die Trauer und Empörung der unmittelbaren Betroffenheit oder des aktuellen Augenblicks hinaus in Hysterie und Verzweiflung treiben zu lassen. Also das Spiel der selbstmörderischen Angreifer nicht mitzuspielen und die erwartete Reaktion bis zu deren irgendwann zu erhoffender Erschöpfung zu verweigern. Wahrscheinlich schwebt Münkler jener selbstbewusste Fatalismus (oder fatalistische Existentialismus) vor, ohne den heute kein Israeli mehr auf die Straße treten oder seine Kinder zum Schulbus schicken könnte.

Dieses Denkmodell, übertragen auf die großen, komplexen und schon durch jeden Stromausfall extrem verletzlichen Länder Europas, auf Nordamerika oder Japan, erweist sich allerdings schnell als intellektueller Laborversuch. Dem die Realität wohl schwer standhalten könnte. Die USA hatten vor zwei Jahren ja noch Glück im Unglück: Hätten die Piloten der dritten entführten Passagiermaschine sich nicht in einen eher irrelevanten Trakt des Pentagon gestürzt, sondern hätten ihre Waffe nur drei Luftmeilen weiter ins Weiße Haus gelenkt, wäre die Ikone der Weltmacht zerstört gewesen und die Fernsehnachrichten aus Washington hätten sich über Jahre hin vor dem demütigenden Bild einer Ruine oder Großbaustelle abgespielt. Und kaum auszudenken, was hierzulande, was in Europa geschieht, wenn ein Sprengstofflaster ins Brandenburger Tor fährt, wenn der Eiffelturm oder Westminster explodieren, von den Toten zu schweigen. Weil wir all diese Horrorszenarien verdrängen, glauben beispielsweise die Berliner Polizei oder der Bundesgrenzschutz noch, dass die rotweißen Sperrgitterchen vor der Englischen Botschaft diese schützen könnten – oder dass die Amerikaner ihre neue Berliner Botschaft auf dem engen, kaum wirklich abschirmbaren Areal südlich des Brandenburger Tores in absehbarer Zeit je bauen werden.

Kamikaze-Angriffe und ein paar ähnliche Versuche der deutschen Sturzkampfbomber im Zweiten Weltkrieg galten damals noch militärischen Zielen und waren im Gesamtverlauf des Krieges so grausig wie bedeutungslos. Die in Großstädten, auf Ferieninseln oder in Besatzungs- und (Bürger)Kriegsgebieten fast jederzeit möglichen Selbstmordattentate stellen dagegen das Selbstbewusstsein einer auf Selbsterhaltung angelegten Spezies in Frage. „Der Mensch ist ein Tier, dass weiß, dass es sterben muss“, sagte einst Friedrich Dürrenmatt. Was aber, wenn das Tier nicht nur töten, sondern dabei selber sterben will?

Inzwischen weiß die Naturwissenschaft, dass nicht einmal Lemminge Selbstmord begehen. Und die neue terror-kriegerische Entwicklung hat nichts mehr mit alten Opferritualen zu tun. Ihre Strategie trifft säkulare Gesellschaften, die weder den religiösen Trost der Transzendenz noch den Märtyrerwahn eines Gotteslohns kennen. Sie trifft zudem Gesellschaften, deren irdische Ideale wie Demokratie und Menschenrechte durch tausenderlei allzumenschliche Kompromisse und manchmal Korruptionen in vielen Teilen der Welt kein Charisma entfalten, das alle Miseren automatisch überstrahlt. Dennoch ist der Überlebenswille der Mehrheit auf Dauer stärker als der Todestrieb einer winzigen Minderheit. Wenigstens daran dürfen wir glauben. Auch ohne Heroismus.

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