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Kultur: Der fremde Freund

Das ist jetzt 24 Jahre her. Dezember 1977, Stuttgart, die Uraufführung von Thomas Braschs "Rotter" mit Peter Brombacher in der Titelrolle.

Das ist jetzt 24 Jahre her. Dezember 1977, Stuttgart, die Uraufführung von Thomas Braschs "Rotter" mit Peter Brombacher in der Titelrolle. Vor der Premiere kam Brasch zu den letzten Proben. Als ich ihn das erste Mal sah, war ich erstaunt, dass er so zart wirkte. So wenig grob. So wenig deutsch. Sehr sensibel. Sehr jüdisch. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Bulliger.

Nach den Proben, auf denen er nichts sagte, saßen wir in einer Altstadtkneipe. Er ging gleich ins Zentrum: Er finde meine Lesart der Rotter-Figur zu kleinbürgerlich. Ich hatte mich diesem Text, besonders der Hauptfigur dieses Stücks, das zwischen 1933 und 1965 von Naziterror, sozialistischem Aufbruch und politischem Verrat erzählt, nicht über eine Rekonstruktion von DDR-Geschichte(n) angenähert, sondern ganz bewusst über die Wiederbelebung eigener geschichtlicher Erfahrung. Da waren Erinnerungen an die Kleinstadt, in der ich seit meinem zehnten Lebensjahr aufgewachsen war, am Rand von München. Die Schulzeit. Für Politik keine Sprache. Kein Denken über Geschichte. Gewalt. Vor der ich immer Angst hatte. Warten. Dahinter: Erwachsenen-Figuren, die in der Erinnerung gefährlich und fast monströs wirkten. Nachkriegs-Strandgut. Was da alles in den Menschen drin steckte und wie nicht gesprochen wurde darüber. Daraus hatte ich versucht, zum Teil albtraumhafte Bilder zu Braschs Text zu finden. Ich hatte erwartet (und befürchtet), dass sich der Autor an diesem Blick, der aus einer anderen, "westlichen", Sozialisation kam, reiben würde. Aber erstaunlicherweise bestand er überhaupt nicht auf DDR-Spezifischem. Der Filter anders wahrgenommener Geschichte interessierte ihn sofort, darüber gab es keine Differenz. Aber die Hauptfigur, die fand er: zu kleinbürgerlich. Und er meinte damit die Haltung, mit der diese Figur gezeigt wurde. Hier war ihm etwas zu westlich, zu selbstbezogen, zu sehr definiert über das Erleiden. Er wollte etwas schärferes. Und plötzlich waren wir in einer Auseinandersetzung, die ich heute als hochpolitisch sehe: nicht über OST / WEST, sondern über die Kraft in Menschen. Über innere Vorwärts-Bewegung, über Widerstand, letztlich über die Kraft der Anarchie. Brasch war in seiner Kritik scharf. Er griff sofort an und er schonte den Regisseur nicht. Ging direkt auf den Schauspieler zu. Peter Brombacher verstand unmittelbar und probierte die RotterFigur von Tag zu Tag mit mehr Sprengkraft, mehr Überschuss. Er zeigte einen Kleinbürger, aber er spielte ihn mit anarchischer Lust.

Brasch ging es nicht um OST ODER WEST damals. Obwohl es so nahe lag. Und alle darauf gewartet haben, dass da ein Antagonismus aufbrechen würde. Die Geschichte gehörte keinem System. Der Autor Brasch verhielt sich nicht wie ein Besitzer (des Textes, der Wahrheit). Er konnte loslassen. Er war sofort bereit, seinen Text fremd werden zu lassen. Gerade der unerwartete Blick, die Distanz sollte ausgehalten werden. (Er hatte eine fast zärtlich wirkende Liebe zum Fremden). In unseren Gesprächen interessierte ihn der Lauf von Menschen-Leben. Entwurzelung, Anpassung, Assimilation, Widerstand, Umsichschlagen, Selbstgefährdung, Anarchie. Obrigkeit und Gehorsam. Deutsche Introjekte. Preußen. In der Figur des Rotter: private Anarchie. Aber Anarchie.

Für mich war seine Kultur die (jüdische) Kultur der Emigration. Er war kein Besitzer. Er war ein Wanderer. Ein Fremder in fremdem Land. Er blieb es, lachend ernst, wann immer wir uns auch später trafen.

Thomas Brasch wird heute um 11 Uhr auf dem Dorothe

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