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Kultur: Der Funktionalismus lebt

Manchmal muß man "Fehler" machen, um Gutes zu tun.Werner Wentzel, Architekt in Berlin und Professor an der Fachhochschule in Dresden, fand in der Reinickendorfer Amendestraße ein nicht gerade ideal geschnittenes Grundstück mit der schmalen Straßenseite nach Nordwesten vor, bei dem auch noch Blockrandbebauung geboten war.

Manchmal muß man "Fehler" machen, um Gutes zu tun.Werner Wentzel, Architekt in Berlin und Professor an der Fachhochschule in Dresden, fand in der Reinickendorfer Amendestraße ein nicht gerade ideal geschnittenes Grundstück mit der schmalen Straßenseite nach Nordwesten vor, bei dem auch noch Blockrandbebauung geboten war.Wentzel entwickelte trotzdem einen in die Tiefe des Grundstücks reichenden, langgestreckten Baukörper, der sich nun konsequent nach Südwesten öffnet.Den "Fehler", daß dadurch die Kinderkrippe mit den Säuglingen statt frühmorgens am Nachmittag besonnt ist, korrigierte er mit einem weiteren "Fehler": Die Krippe wurde ins zweite Obergeschoß verlegt und durch Sheds belichtet, die sich nicht wie üblich nach Norden, sondern nach Südosten öffnen.Helle, freundliche Räume sind das Ergebnis und der Effekt, daß die Räume im Erdgeschoß mit Gartenanbindung für die größeren, mobilen Kinder frei blieben.

Das Vorgehen ist charakteristisch für die Entwurfsauffassung des Planers.Wentzel gehört zu jenen Berliner Architekten, die sich mit den weitgehend formal orientierten Tendenzen der Berliner Gegenwartsarchitektur nicht recht anfreunden können.Die verklinkerte Kartonware, hinter deren einförmigen Lochfassaden die unterschiedlichsten Nutzungen verhehlt werden, sind seine Sache nicht.Die Kita in Reinickendorf beachtet vielmehr den Leitsatz "form follows function": Nebenräume, Küchen, Toiletten, Material- und Putzräume finden sich wie selbstverständlich in den beiden kompakten nördlichen Anbauten mit geputzter Lochfassade.Die Gruppenräume liegen im Südtrakt, durch lange Fensterbänder optimal belichtet, jeweils mit Türen zum direkten Austritt zu Garten, Balkon oder Terrasse.Zwischen beiden "Funktionsbereichen" liegt die "Erschließungszone", zu deutsch Flurbereich, der nach Süden als Glashaus als eigenes architektonisches Element aus dem Bau hervortritt und nach Norden farbenfroh den Eingang des Hauses markiert.

Dessen leichte Verschwenkung im Grundriß könnte man nun als vom Dekonstruktivismus inspirierte Formalie betrachten, indes ergibt sich dadurch eine zunehmende Breite des Flures, ganz im Sinne Hugo Härings also eine Reaktion auf die Nutzung, die unterschiedliche "Verkehrsdichte" entlang des Flures.

Hübsch bunt geht es im Inneren zu, vielleicht zu bunt.Doch auch die herzhaft eingesetzten De-Stijl-Farben Rot, Blau und Gelb sind funktional begründet, unterscheiden Stockwerke und Gruppenräume.Offenkundig funktioniert das Organisations- und Orientierungsprinzip und wird von den Nutzern akzeptiert, denn im blauen Stockwerk kommen auch blaues Geschirr und blaue Handtücher zum Einsatz ...

Der Ausbaustandard liegt auf erfreulich hohem Niveau und offenbart einen geschickten Umgang mit dem verfügbaren Budget.Die Küchen würden sich auch im frei finanzierten Wohnungsbau gut ausmachen.Edel wirkende Holzschränke für die Knirpse (wo anderenorts Blechspinde zur Verfügung stehen) konnte der Architekt durchsetzen, weil deren Brandlast wegen der als Fluchtweg genehmigten Terrassen keine Rolle spielt.Eine über die Vorschrift hinausgehende Stockwerkshöhe wurde damit legitimiert, daß der Altbau des Nachbarschaftshauses nebenan mit dem gemeinsamen Behindertenaufzug erschlossen wird.(Nachträglich hat sich der Zusammenschluß auch deshalb als glücklicher Schachzug erwiesen, weil beide Häuser inzwischen unter einer Leitung stehen.)

Als geradezu üppig erscheint die Ausstattung der Gruppenräume mit Kastenfenstern, deren äußere und innere Verglasung einen Abstand von 60 Zentimeter aufweisen - Raum zum Durchklettern, Spielen, Kunstwerke oder Pflanzen aufzustellen, aber auch Möglichkeit, indirekt, gleichsam mit Lärmfalle zu lüften, denn die Kita liegt im Einflugbereich des Flughafens Tegel.

Der Bau von Schulen und Kindertagesstätten wird heutzutage durch ein dickes Buch an Pflichten und Vorschriften mehr gegängelt und behindert denn geregelt.Sehr häufig stehen diese Vorschriften im Gegensatz zu den Vorstellungen der Architekten von Baukunst, Material- und Nutzungsqualität, häufig ist deren Arbeit ein stetiger Kampf um die vernünftige Interpretation dieser Vorschriften.Je mehr Gedanken sich der Architekt um einzelne Problemlösungen macht, je mehr er den Nutzern - den Kindern - seine Zuwendung schenkt, desto zäher wird das Ringen mit der Baubürokratie, und eine glücklich erwirkte Vereinbarung mit der Feuerpolizei kann hinfällig sein, wenn der zuständige Beamte wechselt und der Nachfolger andere Vorstellungen von denkbarem Brandverlauf und Brandgefahren hegt.

Die Kindertagesstätte in Reinickendorf ist ein Beispiel für ein hohes Maß dieser Zuwendung.Das Ergebnis ist ein funktionalisierter Bau, dessen kindgerechte Konzeption wohl nur mit solch offener, leicht lesbarer und unprätentiöser Architektur möglich ist.

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