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Kultur: Der geniale Kleckser

Rembrandt retrospektiv: Die Wiener Albertina zeigt den ganzen künstlerischen Kosmos des holländischen Universalisten

Iiiiih! Ooooohhhh! Aaaahhh! Mmmmmmmh??? Würde man neben die im Jahr 1630 radierten Selbstbildnisse Rembrandts den lautmalerischen Ausdruck setzen, so hätte man den reinsten Comic. Angstvoll aufgerissene Augen, erstauntes Zurückweichen, befremdete Blicke und schließlich irritiertes Stirnrunzeln – der bedeutendste Maler des niederländischen Barock spielt die gesamte Klaviatur der Gefühlsregungen. Diese nur wenige Zentimeter großen Porträts dienten weniger der exzessiven künstlerischen Selbstbefragung, wie lange Zeit vermutet wurde, sondern als Beispiele für die ganze Palette des emotionalen Ausdrucks und damit als Fundus für seine Schüler.

Mit einiger Fantasie könnte man darin auch Rembrandts (1606–1669) ungläubige Reaktionen auf den heutigen Umgang mit seinem Werk ablesen. Der Mann musste in der Moderne mächtig Federn lassen. Wo immer sich größere Konvolute seines Werks in den Sammlungen der Welt befanden, wurde es nach wundersamer Vermehrung im 19. Jahrhundert gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf geradezu masochistische Weise wieder reduziert. Wohl kein Maler der Kunstgeschichte hat solch dramatische Zu- und Abschreibungen erlebt wie Rembrandt. Vorläufiger Höhepunkt war die Exkommunizierung des Berliner „Manns mit dem Goldhelm“, der seitdem nur noch als Werk aus dem Umkreis der Werkstatt gilt. Wann immer in den letzten Jahren eine Ausstellung seiner Werke zu sehen war, wurde sogleich dieses allgemeine Entsetzen, Staunen, Befremden über die erschütternden jüngsten Forschungsergebnisse thematisiert. Ja, am Ende lauteten die Ausstellungstitel völlig verunsichert „Rembrandt oder nicht?!“ wie bei den jüngsten Präsentationen der Hamburger und Bremer Kunsthalle sowie des New Yorker Metropolitan Museums Mitte der Neunzigerjahre.

Auch die Wiener Albertina blieb von den Heimsuchungen des seit 1982 arbeitenden „Rembrandt Research Project“ nicht verschont. Lakonisch konstatiert Direktor Klaus Albrecht Schröder, dass auch seine Kollektion einem „abschmelzenden Gletscher“ gleiche. Von einstmals stolzen 141 Blatt hielten sich am Ende aller Bereinigungen nur rund vierzig Zeichnungen authentisch aus des Meisters Hand. Dennoch bleibt die Sammlung der Albertina zusammen mit der fast vollständig vorhandenen Druckgrafik ein Hochgebirge für alle Rembrandt-Liebhaber. Unverdrossen sucht deshalb das Haus die Auseinandersetzung mit dem auch weiterhin größten holländischen Künstler des 17. Jahrhunderts. Die zweite große Malerei-Ausstellung, mit der nach Dürer die glanzvoll wieder eröffnete Albertina zu trumpfen sucht, lässt nach Aussonderung aller fraglich gewordenen Beispiele die Rangeleien beiseite (auch wenn im Katalog-Vorwort noch gejammert wird) und widmet sich wieder ganz Rembrandts eigenem Schaffen. Und siehe da: Der Maler hat auch die jüngsten Ramponierungen überstanden und steht am Ende der großen Wiener Retrospektive rehabilitiert als das Genie von ehedem dar.

Kein Wunder, denn die Ausstellung stellt sich treuhänderisch in den Dienst des Meisters, indem sie quer durch sein Oeuvre eigene Kapitel bildet, die Rembrandt bereits selber in seinen Alben und Mappen vorgegeben hatte: nackte Figuren, „Frauenleben und Kinder“, Tiere, Landschaften... Die Ausstellung belässt es jedoch nicht bei den Zeichnungen wie der Künstler selbst, sondern nimmt auch noch die Grafiken und Gemälde hinzu. Dadurch kommt ein erstaunlicher Medienmix zustande, der am Ende doch nur die Erkenntnis bestätigt, dass Rembrandt innerhalb jeder Technik vollkommen unabhängig arbeitete und weder Zeichnungen noch Grafik zur Vorbereitung seiner Gemälde benutzte. Auch wenn das Nebeneinander der verschiedenen Methoden reizvolle Vergleiche ermöglicht, so springt doch das Ungleichgewicht zwischen dreißig Gemälden auf der einen und 150 Papierarbeiten auf der anderen Seite überdeutlich ins Auge.

Eines aber dokumentiert die Wiener Schau auf bislang unübertroffene Weise: die Mannigfaltigkeit Rembrandts und seine Meisterschaft in jedem Genre. Die Motive selbst stehen im Vordergrund und nicht mehr die biografischen Verknüpfungen, auch wenn das wechselvolle Leben des Künstlers seit jeher zu verwegenen Interpretationen animierte. Auch hier hat er alle Anfeindungen überstanden: Diesmal ist er nicht der gewiefte Händler, der seine Werkstatt knechten ließ und geschickt mit Stilwechseln auf die Bedürfnisse des Marktes reagierte; und auch nicht der häusliche Schurke, der seinen unterdrückten Sohn als Strohmann fürs Geschäft benutzte oder seine Ex-Geliebte ins Irrenhaus stecken ließ, nachdem sie ihm vor Gericht ein gebrochenes Ehegelübde nachweisen konnte. In der Albertina darf Rembrandt einfach nur Rembrandt sein und seinen ganzen Warenkatalog aufblättern. Und der Betrachter darf sich von Höhepunkt zu Höhepunkt hangeln.

Den Beginn markieren die exaltierten Selbstbildnisse der Leidener Jahre, die vollkommen im Widerspruch zu den ruhigen, gesammelten Porträts zu stehen scheinen, mit denen er sich Anfang der 1630er Jahre in Amsterdam einen Namen machte. Vor allem die Spannbreite imponiert: von den großartig hingeworfenen Tierzeichnungen, darunter der berühmte Pariser Löwe, bis zu den heroischen Frauenbildnissen, verkörpert in der Londoner „Flora“ oder der „Sophonisba“ aus dem Prado. Rembrandt malte wie ein Besessener alles – und alles zugleich: sowohl die prachtvollen Fantasiegewänder seiner Protagonisten aus dem Alten Testament als auch das ungeschönte Darunter in den realistisch gezeichneten und radierten Akten. Da kann die Diana im Bade durchaus Zellulitis haben und mag sich in den weichen Waden einer Sitzenden der Strumpfrand abzeichnen.

„Nach dem Leben“ lautete seine Devise, wofür ihm nichts zu hoch und nichts zu niedrig erschien. Zu den anrührendsten Bildern gehören die Kinderzeichnungen, darunter auch das Mitte der Dreißigerjahre entstandene Budapester Blatt einer Frau mit weinendem Kind und Hund. So klein es ist, so unmittelbar bannt es doch die Gleichzeitigkeit der Bewegung des Kindes, das vor dem Hund zurückweicht und Schutz sucht, die tröstende Umarmung der Mutter und das neugierige Schnuppern des Hundes mit wenigen Federstrichen. Von der flüchtigen Momentaufnahme sind es in der Ausstellung nur wenige Schritte bis zu den dramatischen Radierungen zur Passion Christi; nebeneinander hängen die drei Druckzustände der „Drei Kreuze“, in denen sich das Geschehen immer weiter verdichtet und sich der Himmel unter den heftigen Schraffuren schließlich vollkommen zusammenzieht. Sie stellen einen Höhepunkt im grafischen Oeuvre Rembrandts dar.

Die Meisterlichkeit des Porträtisten dokumentiert ein Gemälde des jungen Gerard de Lairesse, den Rembrandt trotz seiner krankheitsbedingten Entstellungen im Gesicht als hoch gebildeten, eleganten Zeitgenossen erscheinen lässt. Ausgerechnet Lairesse sollte später als Verfechter des Klassizismus zu den größten Kritikern Rembrandts gehören, dessen „Gekleckse“ er wütend attackierte. Als de Lairesse’ heftige Abrechnung im „Het Groot Schilderboek“ 1707 erschien, war Rembrandt lange schon tot. Letztlich ebbte auch die Klassizismusdebatte an seinem Werk ab, wie so vieles andere danach. Die Wiener Retrospektive setzt dem großen Künstler erneut ein Denkmal, auf dass er auch die Fährnisse des 21. Jahrhundert pariert.

Albertina, Wien, bis 27. Juni; Katalog (Edition Minerva, München) 29 Euro.

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