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Kultur: Der gerissene Schleier

Vor vier Jahren veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Erzählband. Seitdem ist viel passiert: beiläufig ein bisschen Weltgeschichte und die Geburt ihres Sohnes.

Für romantische Naturen sind Schriftstellerfotos in der Regel eine Enttäuschung. Das Konterfei auf dem Umschlag in ein befriedigendes ästhetisches Verhältnis zum Text zu bringen, überfordert sie. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. Die junge deutsche Literatur hält ein schönes Beispiel dafür parat, wie Text und Foto sich gegenseitig mit Erwartung und Geheimnis aufladen können: Der Name des Menschen, der hinter diesem doppelseitigen Vexierbild steht, ist Judith Hermann.

Ein Name, der einen Schwanz von Schlagworten hinter sich her zieht: 250 000 verkaufte Exemplare, in 17 Sprachen übersetzt, Kleistpreis. Am Anfang dieser ungeahnten Kettenreaktion stand „Sommerhaus, später“, ein Band mit Erzählungen, erschienen 1998, und ein schwarz-weißes Foto im Einband: Ein schmales Gesicht mit Augen, die den Kommentar des Literarischen Quartetts darunter sehr eindrucksvoll illustrierten: „Ganz wunderbare Geschichten, erzählt wie mit halb geschlossen Lidern.“

In diesen Tagen ist ein neues Foto von Judith Hermann in Umlauf. Es ziert die Feuilletons der Zeitungen, manchmal sogar ihre Titelseiten. Sie trägt ihr Haar sachlicher auf diesem Foto, der Pelzkragen ist einer strengen Bluse gewichen, das Bild leuchtet in Farbe – und wirkt vielleicht auch deshalb klarer, heutiger, realer als das erste. Es atmet immer noch etwas von dieser „traumwandlerischen Sicherheit“, die der Autorin nachgesagt wird, aber die Aura ist doch weniger wolkig. Mehr als vier Jahre liegen zwischen dem Erscheinen dieser beiden Fotografien, und mehr als vier Jahre liegen zwischen den beiden Büchern von Judith Hermann. Es ist das Foto zu ihrem neuen Buch: „Nichts als Gespenster“.

„Auf kein Buch wird so lautstark gewartet wie auf ihr nächstes“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Judith Hermann hat sie vier lange Jahre lautstark warten lassen.

Mit geschlossenen Augen

Es geht gegen neun Uhr abends, kein Platz ist mehr frei im Vortragssaal des Fischer-Verlags in Berlin-Mitte. Es herrscht respektvolle Stille. Heute abend wird Judith Hermann zum ersten Mal aus ihrem neuen Buch lesen. Ein kleiner Tross bahnt sich den Weg durch das Publikum: Verlagsleute und die Autorin, leicht nach vorne gebeugt, in einem dunklen Cordkleid und hohen hellen Lederstiefeln. Die Blicke heften sich an ihren Rücken, ihren Hinterkopf. Ist das die Frau von dem Foto, sind Cord und Leder nicht zu rauhe Stoffe für dieses ätherische Wesen? Ein Verlagsmitarbeiter reiht ein paar hymnische Zitate aus der Presse aneinander, es ist ein bisschen peinlich. Judith Hermann macht denn auch keine großen Worte, fängt sofort an zu lesen, mit einer dunklen, etwas rauhen, sehr eindringlichen Stimme. Sie liest gut, sehr gut. Ihre Stimme gibt dem Text, anders als bei vielen ihrer Schriftstellerkollegen, eine zusätzliche Dimension. Sie hat sich die längste, die Titelgeschichte ausgesucht. Der Vortrag dauert eine gute Stunde, aber dennoch verlässt nur ein einziges Paar den Saal. Manche halten die Augen geschlossen, als lauschten sie einer leisen Melodie. Dann ist es zu Ende und Judith Hermann verschwunden.

Man sagt, die Zeit fange an zu rennen – immer schneller – je älter man werde. Judith Hermann sagt: „Diese letzten vier Jahre erscheinen mir länger als die acht Jahre vor ,Sommerhaus, später’.“ Zeitsprünge, die ein Leben macht: 32 minus vier ist 28 – so alt war sie, als sie der Erfolg überraschte. 28 minus acht macht zwanzig. Die Zeit nach dem Abitur, nach der Schule, vor … was?

Judith Hermann sitzt wieder in der Berliner Dependance von S. Fischer. Der Vormittag vor dem Fenster ist eine graue Wand. Die Autorin raucht. Sie sieht genauso aus wie auf den Fotos und völlig anders. Sie ist präsent, manchmal scharf, sehr präzise und witzig. Sie redet schnell, setzt die Worte so geschickt wie beim Schreiben, und die Augen hält sie weit geöffnet.

Als Judith Hermann zwanzig Jahre alt war, hatte sie ihr Elternhaus in Neukölln gerade verlassen und studierte an der Freien Universität Germanistik und Philosophie. „Grauenhaft“, sagt sie und lacht, als erinnerte sie sich an einen geschmacklosen Witz, der so schlecht war, dass man eben schon wieder lachen muss. Vor kurzem war sie wieder einmal dort, in der so genannten Silberlaube, wegen ihres Buches. „Da sah ich wieder eines dieser komischen Schilder – „AB-Straße“ – und plötzlich bin ich wie in einem unglaublichen Zeitraffer durch einen Tunnel zurückgeschossen und spürte wieder diese Orientierungslosigkeit, diese tiefe Depression von damals. Die Mensa und die Erinnerung an Buttermilch und Schokoriegel, an fensterlose Hörsäle, und diese ganzen Grässlichkeiten, und diese tote Gegend, in der diese Universität liegt. Nach vier Semestern habe ich es abgebrochen.“ Sie sagt das ohne einen Anflug von Bedauern. Sie lacht. Sie hat sich dem Elend der Universität entzogen. Das Studium war nur eine Möglichkeit von vielen.

Sie hat als Kellnerin und Hostess gearbeitet, als Regieassistentin, sie hat sich zweimal an der Schauspielschule beworben und sei „natürlich“ nicht genommen worden. „Ich bin fünf Jahre lang ziemlich gut damit zurecht gekommen, dass mich nichts so sehr begeistert hat, dass ich meine gesamte Zeit darauf verwenden wollte.“ Sie konnte die Unsicherheit aushalten. Sie hat Geld verdient, ihre Eltern konnten sie nicht unterstützen, und ansonsten hat sie das geführt, was sie sich unter Künstlerleben vorstellte. „Ohne dass ich auch nur irgend etwas Künstlerisches getan hätte“, sagt sie und lacht wieder.

War sie faul gewesen? Ein hässliches Wort, findet sie. Auf eine gewisse Art sei sie ohne Ehrgeiz und undiszipliniert gewesen, auf eine andere auch ehrgeizig und diszipliniert – wenn es darum ging, auf einem bestimmten Lebensentwurf zu beharren. Aber dann, mit Mitte zwanzig, kam der Wunsch, etwas zu Ende zu bringen, sich zu entscheiden, an „einem Punkt hängen zu bleiben“.

Die Journalistenschule war so ein Punkt. Keine lange Strecke. Anderthalb Jahre, dann hatte man eine Ausbildung, ein Diplom, „die Möglichkeit eines Berufs“. Die Möglichkeit ist eine Möglichkeit geblieben, aber sie hat sie zum Schreiben gebracht. Eine kompakte Lehrzeit, die ihr Präzision und Knappheit vermittelt hat. „Der erste Satz muss sein wie eine atomare Explosion“, zitiert Judith Hermann, die Meisterin der ersten Sätze, eine Lektion von damals.

Die Journalistenschule bereitete ihr aber auch eine Enttäuschung. Judith Hermann wollte Reporterin werden, Reisereporterin. Alexander Osang, einer der renommiertesten deutschen Reporter, unterrichtete dieses Genre. „Wir waren zehn in der Klasse und meine Reportage war die schlechteste“, sagt sie. Der Text habe überhaupt keine Linie gehabt, war keine Literatur aber auch keine informative Reportage. „Ich bewundere Osang sehr und habe nach seinem Urteil gedacht, vergiss es – du wirst keine Reporterin sein.“ Stattdessen hat sie fürs Radio gearbeitet.

„Ich würde gerne einmal einen fremden Blick auf Berlin werfen“, sagt sie und fixiert ihre Zigarette, während hinter ihr das tote Berliner Winterlicht durch die Scheiben des Verlagshauses sickert. Sie ist in Berlin in der Nähe des Hermannplatz aufgewachsen und zur Schule gegangen, hat in Höfen und Parks gespielt, in Kreuzberger Cafés gesessen, wenn sie die Schule schwänzte, und später hat sie ihren Radius auf Schöneberg ausgedehnt. Noch später ist sie dann nach Prenzlauer Berg gezogen.

Berlin war ihr Universum. In Berlin hat sie ihre alles andere als traumatische Kindheit und Jugend verbracht – eine Unterstellung, auf die sie nicht mehr antwortet, vorgebracht von Journalisten, die ihre Texte so schrecklich traurig finden. „Es gibt da eine gewisse Traurigkeit, aber sie ist nicht unaushaltbar, meine ich. Und es gibt auch Glücksmomente“, sagt sie.

Der fremde Blick auf die eigene Stadt bleibt ihr natürlich verwehrt, aber einmal hat sie die Stadt der Kindheit, der Eltern verlassen, einen kleinen Bruch herbeigeführt, wie es ihn im Leben ihrer Freunde gibt, die irgendwann ihren Heimatort verlassen haben und nach Berlin gegangen sind. Aber wenn man eine Stadt für eine andere verlässt, dann muss das Ziel eine Steigerung darstellen. Was ist die Steigerung von Berlin? Judith Hermann entschied sich für New York.

Dort hat sie für deutschsprachige Zeitungen gearbeitet und – wie sie es mit eigenartig diffuser Präzision formuliert – die Imitation eines amerikanischen Lebens gelebt, wie sie es aus Filmen und Büchern kannte. Das sei sehr beglückend gewesen, aber sie war auch überfordert von der Geschwindigkeit, der Lautstärke und dem Rhythmus der Stadt. „Wenn man dort länger bleiben will, braucht man ein Ziel. Aber ich hatte keines, und sich so treiben lassen in New York, ist, wie wenn man auf einem Floß auf einem rauschenden Fluss hinunterfährt. Es gibt kein Innehalten. Alle Menschen, denen man begegnet, sind für fünf Minuten sehr intensiv da, erzählen etwas ganz Privates und holen etwas ganz Privates aus einem heraus und wenn man sich umdreht, sind sie schon wieder verschwunden.“ Irgendwann sei sie abgereist, in einer gemischten Stimmung aus Kapitulation und Erleichterung. Zurück in Deutschland hat sie sich mit einigen Entwürfen von Erzählungen um ein Stipendium im Alfred-Döblin-Haus in Wewelsfleth beworben. Der leise Beginn von etwas, das wenig später den Literaturbetrieb erbeben ließ.

„Diese acht, neun Jahre zwischen dem Abitur und ,Sommerhaus, später’ waren eine sehr glückliche, eine großartige, erlebnisreiche, intensive Zeit“, sagt Judith Hermann. „Aber es herrschte so eine Art Gleichmaß, ich kann da gar keine Stationen oder Brüche beschreiben. Ich war immer in einem ganz bestimmten Zustand, der mir im Nachhinein sehr unscharf vorkommt. Ich habe mich einfach dem hingegeben, was geschah.“

In zehn Jahren, im Rückblick, werde sie vielleicht zu dem Ergebnis kommen, dass die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Buch die schwierigste in ihrem Leben gewesen ist. Aber auch die klarste. „Ich war ganz bewusst, in allem Glück und Unglück, manchmal unerträglich bewusst. Ich begann zu spüren, dass es Konsequenzen gibt, dass das, was man tut, ein Resultat hat.“ Das habe auch das Empfinden für ihre Figuren verändert. „Die Figuren in ,Sommerhaus, später’ ziehen unglaublich radikale Schnitte, gehen einfach, wenn eine Utopie scheitert, zünden ihre Häuser an und verschwinden, ohne ein Adresse zu hinterlassen. Die Konsequenz, die das doch haben kann, wird nicht mehr erzählt.“

In den neuen Erzählungen ist das anders. „Das ist wahrscheinlich sehr parallel zu meinem eigenen Leben, das ich jetzt auch von den Konsequenzen erzählen will, nicht nur von einer akuten Befindlichkeit.“ So könnte die Titelgeschichte „Nichts als Gespenster“ auch einen Absatz früher enden, sagt sie. Aber das tut sie nicht, die Konsequenz aus der Geschichte ist ein Kind, und auch davon wird erzählt.

„Ihr Erfolg wird groß sein“

In der Zeit zwischen den beiden Büchern kam auch Judith Hermanns Sohn zur Welt. Sie hatte gerade ein Stipendium in Süddeutschland angenommen, als sie feststellte, dass sie schwanger war. Sie fuhr wieder nach Hause, hörte auf zu rauchen und zu schreiben. Das eine ohne das andere sei ihr unmöglich, meint sie. Ihr Sohn Franz, dem auch das neue Buch gewidmet ist, wurde im Sommer 2000 geboren.

Erst war da die Unsicherheit, nichts mehr zu Stande zu bringen mit dem Kind, und das in einer Zeit, in der sie sich wie begraben gefühlt haben muss unter dem ganzen Lob für ihr erstes Buch. „Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein“, hatte Marcel Reich-Ranicki damals orakelt. Hellmuth Karasek sprach von dem „Sound einer neuen Generation“. Im Herbst 2001 erhielt sie dann auch noch den Kleistpreis, eine weitere Auszeichnung, die Erwartungen schürte.

Von der „Heimsuchung“, die bleiben zu müssen, als die man gelobt wurde, hat Judith Hermann einmal gesprochen. Ein Kollege hat sie gefragt, so ist in diesen Tagen zu lesen, wie sie so blöde sein konnte, ein zweites Buch zu schreiben. Sie hätte doch die Chance gehabt, mit einem einzigen Band Erzählungen in die Literaturgeschichte einzugehen.

Die Geburt des Kindes hat Abstand zu all dem geschaffen – eine Zäsur, wichtiger als der für viele so einschneidende 30. Geburtstag, ein Abschied von der eigenen Kindheit. „Das Kind“, sagt sie, „setzt eine neue Messlatte in die Zeit. Man kann sich an vieles besser erinnern, die Zeit bekommt eine ganz andere Kontur und Schärfe“. Nach dem Stillen hat sie wieder angefangen zu rauchen, und der Schleier, der sich während der Schwangerschaft über ihre Wahrnehmung gelegt hatte, sei aufgerissen. Sie machte sich an die Arbeit, was nicht immer einfach war mit einem kleinen Kind. Zweimal verließ sie die Stadt, für Aufenthaltsstipendien in Amsterdam und Island, und das Kind blieb mit seinem Vater und ihren Eltern in Berlin.

Auch die Erzählungen in ihrem neuen Buch handeln vom Reisen: Vom Aufbrechen, von der Distanz zum Vertrauten, vom Zurückkommen. Literarische Reisereportagen sind es dennoch nicht geworden. Die Bühne ist zwar nicht mehr wie bei vielen Geschichten des ersten Buches Berlin, aber oft scheint die Fremde – Paris, Island, Venedig, Karlsbad, Prag und Norwegen – vor allem eine Spiegelung Berlins zu sein.

Nun ist es also da, ihr zweites Buch, das es mit all dem Lob aufnehmen muss, das dem ersten beschieden war. Werden jetzt all die hochfliegenden Prophezeiungen wahr, oder werden die Kritiker, ihres überschwenglichen Lobes eingedenk, ganz besondere Strenge walten lassen, und unter umgekehrten Vorzeichen eine Verhältnismäßigkeit herstellen, die sie vor vier Jahren, in der Euphorie der Entdecker, vielleicht ein bisschen aus den Augen verloren hatten? Wer für sein Debüt soviel Anerkennung bekommt, riskiert beim zweiten Mal, weniger an seinem Werk, als an seinen Auszeichnungen gemessen zu werden. „Jeder Text entwirft seine eigenen Maßstäbe“, schrieb Gregor Dotzauer in dieser Zeitung, „aber manche Preise, wie der Kleistpreis, richten Ansprüche an die Trägerin Judith Hermann“.

Am Morgen, im Café, hat sie mit Herzklopfen das Foto in der Zeitung entdeckt – ihr Foto, das neue. Es kündigte eine der ersten Kritiken ihres neuen Romans an. Eine Randerscheinung des Erfolges, sagt sie lächelnd, sei ja dieses Foto gewesen – das alte – und die damit verbundene Vorstellung ihrer Person. „Die Annahme der Leser war ja oft, ich sei nicht von dieser Welt und melancholisch und schlafwandlerisch und auf den Lesebühnen konnte ich zeigen, dass ich eine vollkommen normale Person bin. Dass ich normale Sätze sage und handfest und relativ robust bin.“ Das zu zeigen, sei ihr ein Bedürfnis gewesen.

Die Kritik, ach ja. Ein totaler Verriss, sagt sie ruhig. Und der Rezensent habe ja in gewisser Weise Recht. Sie wisse tatsächlich nicht genau, wovon sie erzähle. Aber sie wisse sehr genau, dass ihre Geschichten immer auf einen ganz bestimmten Moment zusteuern, einen Moment, der einen innehalten lässt, der zu einer Metapher werde für eine Lebenserfahrung.

Sie hat also die Kritik zu Ende gelesen, die Zeitung zugeschlagen, ihren Kaffee bezahlt und ist in den Verlag gefahren. Und zum ersten Mal seit langer Zeit habe sie sich wie ein normaler Mensch gefühlt – irgendwie erleichtert. Die Empfindung, die man dann habe, sei so schön eindeutig, sagt sie, realistisch und normal. „Ich habe so wenig schlechte Kritik zu ,Sommerhaus, später’ bekommen. Ich wusste gar nicht, was schlechte Kritik mit mir macht.“ Ihr Konto wird wohl noch einige Zeit im Plus bleiben.

Christine Meffert

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