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Kultur: Der große Schienenersatzverkehr

Die Linie 1 fährt nicht mehr. Zumindest nicht da, wo sie fahren sollte. Und sie rollt doch. Seit 20 Jahren im Grips-Theater.

Vergangenes Jahr haben sie es wirklich getan. Den Verkehrsplanern war sie ja schon lange ein Dorn im Auge, die grüne U-Bahnlinie, die einst von Ruhleben über den Bahnhof Zoo ins Herz von Kreuzberg führte. 1993 hatte die BVG ihr eine neue Farbe verpassen wollen, eine neue Nummer dazu, erst der Einspruch empörter Theaterfans hatte die Pläne durchkreuzt. Doch 2005 kannten die BVG-Chefs keine Gnade mehr. Sie verstümmelten die Linie 1. Wer vom Zoo zum Schlesischen Tor will, muss seitdem am Wittenbergplatz umsteigen.

Es bleibt eine Alternative: das Grips-Theater am Hansaplatz. Dort wird die „Linie 1“ auch an diesem Sonntag wieder die alten Bahnhöfe abfahren, deren Reihenfolge wahre Fans nicht nur aufsagen, sondern vorsingen können, wahlweise als Countrysong oder in Choralform. Seit genau 20 Jahren verkehrt die Grips-Bahn, am 30. April 1986 war Uraufführung unter der Regie von Wolfgang Kolneder und zur Musik von Birger Heymann. Am 30. April 2006 gibt es das Jubiläum mit ehemaligen Schauspielern auf der Bühne und Ehrengästen im Publikum. Zwischen beiden Tagen lagen 1250 Vorstellungen, allesamt ausverkauft, eine halbe Million Zuschauer allein im Grips und ungezählte Nachinszenierungen von Dublin bis Seoul. Das ist die einzigartige Bilanz, die die „Linie“ zu einem der meistbesuchten Theaterstücke der Nachkriegszeit macht und nach der Dreigroschenoper zum meistgespielten deutschen Musical. „Und sie fährt weiter, solange die Leute sie sehen wollen“, sagt Theaterchef und Autor Volker Ludwig. Auch wenn sich die Stadt um das Stück herum verändert hat, Grips ist „Linie 1“, und „Linie 1“ ist Berlin: Die Gleichung, so scheint es, gilt immer noch. Oder schon wieder.

Abends, wenn die Zuschauer auf Geheiß des Kartenabreißers enger zusammenrücken, damit noch mehr Leute in den umgebauten Kinosaal passen, dann ist alles genauso wie vor 20 Jahren. Die Scheinwerfer gehen an, und plötzlich steht es oben auf der Treppe, das Mädchen mit der Reisetasche.Es schaut sich um, die Augen weit aufgerissen, und singt die Anfangszeile: „6 Uhr 14, Bahnhof Zoo.“ Von zu Hause abgehauen ist sie, aus irgendeiner Kleinstadt in Westdeutschland, und hat nur einen Gedanken: Johnnie zu finden, den Rockmusiker, der ihr die Welt versprochen hat. Doch statt der Erfüllung ihrer Träume erwartet sie hier etwas anderes, „ein Panoptikum der Aussteiger“, wie Ludwig es nennt. Da ist Bambi, der gutmütige Dealer, der sich selbst als „Drogenberater“ bezeichnet und das Mädchen mit kostenlosen Pommes bei Bouletten-Trude versorgt. Da ist der Penner Schlucki, der sie mit einem herzlichen „Haste mal ne Mark?“ willkommen heißt und nur bis zum nächsten Bier denkt. Und da sind die sprichwörtlich gewordenen Wilmersdorfer Witwen, die „Diademe der Reichshauptstadt Berlin“, von Agathe bis Kriemhild. Sie alle formen das Bild der Stadt und helfen dem Mädchen, sich ein Bild von sich selbst zu machen. Und wenn die Zuschauer nach drei Stunden ins Freie strömen, werden sie wie alle Berlin-Besucher vor ihnen glauben, jetzt Berlin zu kennen.

„Wir sind mit dem Stück ein hohes Risiko eingegangen damals“, sagt Ludwig. Drei Jahresetats an Kostümen hatten sie ausgegeben, Hunderttausende an Schulden angehäuft. Dann, vier Tage vor der Premiere, flog in Tschernobyl der Reaktor in die Luft, die radioaktive Wolke zog genau in jenen Stunden über Deutschland hinweg, als sie im Grips zum ersten Mal die U-Bahntreppe hinunterklappten. Hätten die Berliner es gewusst, wären sie vielleicht zu Hause geblieben. So aber kamen sie, und ihre Schlange reichte bis zum Postamt. „Plötzlich hieß es, ein Abend in der Linie ersetzt eine Woche Berlin-Tourismus“, sagt Ludwig. Das mag übertrieben sein. Doch wahr ist: Binnen weniger Monate wurde die „Linie“ zum Bestandteil ungezählter Klassenfahrten aus der Hälfte des Landes, das im Musical mit „Wessiland“ betitelt wird und nicht übermäßig gut wegkommt.

Spätestens durch „Linie 1“ gehört das Grips zu den bekanntesten Theatern in Deutschland. Immer wieder haben bekannte Schauspieler in dem kleinen Haus neben den S-Bahngleisen ihre Karriere gestartet. Dieter Landuris etwa, kommende Woche im Sat-1-Film „Meine bezaubernde Nanny“ zu sehen, hat bei der Linien-Premiere den Bambi gespielt. „400 Vorstellungen vergisst du nicht, das geht für immer ins Unterbewusstsein“, sagt Landuris. „Die Rolle zu bekommen, war für mich das Größte.“ Ja, der Landuris. Ludwig seufzt versonnen. Den hätte er gerne noch hier. Von der ursprünglichen Besetzung sind neben der Band „No Ticket“ nur noch drei Schauspieler übrig. Nadine Warmuth zum Beispiel, die seit 2004 das Mädchen spielt, war bei der Premiere erst vier Jahre alt. Seit ihrer Hauptrolle in der Gefängnisserie „Hinter Gittern“ stehen die Kids manchmal für Autogramme Schlange.

„Wer weiß, wie lange sie uns erhalten bleibt“, brummt Ludwig. Nächstes Jahr wird der Grips-Chef 70. Von hinten sieht er auch so aus. Das liegt an seinem grauen Haarkranz. Doch das spöttische Grinsen und sein wacher Blick lassen keinen Zweifel: Für seine Sache brennt er heute wie vor 40 Jahren. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum er seine Zerrissenheit nicht verbergen kann, wenn er vom größten Erfolg seines Lebens spricht, seiner „musikalischen Revue“, die Kritiker in „Musical“ umgetauft haben, in „das Berlin-Musical schlechthin“. Natürlich kratzt es ihn, dass die märchenhafte Linie all seine anderen Stücke überstrahlt. „Café Mitte“ etwa, ein Stück über das Berlin der Nachwendezeit, das Ludwig selbst „viel härter und eindeutiger“, kurz: politischer fand, ist längst aus dem Programm gekippt. Die melodramatische „Linie“ hingegen setzen sie an, wann immer sie eine Lücke im Terminplan haben. Läuft immer. Der Ruhm seiner Revue ist auch zur Geißel geworden, Grips ist „Linie 1“, genau, das ist ja manchmal das Problem.

Ludwigs gemischte Gefühle haben auch mit den linken Wurzeln des Grips zu tun. Nachdem sich die Studentenbewegung Anfang der Siebziger zerstritten hatte, sahen er und seine Schauspieler im Kindertheater die ihnen „gemäße Form sinnvoller Zielgruppen- und Basisarbeit“, wie Ludwig es einmal gestelzt ausgedrückt hat. Als vermeintliche Nestbeschmutzer belegt mit Auftrittsverboten in CDU-regierten Bezirken, verfolgten sie ihre Vision von einer gerechteren Welt, immer ein bisschen Außenseiter, aber wenigstens wussten sie immer, wo sie hingehörten. Bis der weltgewandte Richard von Weizsäcker Bürgermeister wurde. Schlagartig änderte sich die politische Wetterlage, rechtzeitig zur Premiere von „Linie 1“ war das Grips gefangen im Mainstream – und drohte seine Stimme zu verlieren. „Natürlich ist die Linie eine Liebeserklärung an Berlin“, sagt Ludwig, „aber sie ist auch eine krasse Sozialkritik. Doch plötzlich war das den Konservativen egal."

Wie ironisch, dass sie den seit Jahren überfälligen Umbau des Theaters dann endlich hinbekommen haben, mit der Hilfe des CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky, er hat ihnen sogar die Millionen für die neue Beleuchterbrücke losgeeist, die nennen sie seitdem Landowsky-Brücke. Doch auch in diesen Jahren wurde das Grips, wurde die „Linie 1“ zum Spiegelbild ihrer Stadt: Die Grabenkämpfe der Siebziger und frühen Achtziger waren vorbei, die Berliner wollten Harmonie. Klar, dass die beim Publikum beliebtesten Linie-Charaktere nicht die harten Revoluzzer waren, sondern Typen, die beides zugleich liefern: ein bisschen Systemkritik und ganz viel gute Laune, Typen, die auf ihre Art total hoffnungslos sind und gleichzeitig total putzig. Wie Schlucki und sein Kumpel Erich, mit Christian Veit und Thomas Ahrens beide noch in ihrer Originalbesetzung von 1986, die ständig an neuen Tricks feilen, um Geld von Wessi-Tussis abzuziehen. Oder sich gegenseitig Schimpfwörter an den Kopf schmeißen. „Een Tupfer, und deine Neese sitzt hinten. Der zweete wär schon Leichenschändung!“ krächzt Schlucki. Und das Publikum tobt wie vor 20 Jahren.

Und doch ist es das Bild einer vergangenen Welt. Die „Linie 1“ rattert durch eine Mauerstadt, die es nicht mehr gibt. Von dem heruntergekommenen Gemäuer, dem Bahnhof Zoo von Schlucki und Erich, war schon seit der Sanierung der Neunziger nicht viel übrig. Die Wege von Stück und Stadt haben sich getrennt: Ende Mai wird der Bahnhof Zoo als Fernbahnhof ausrangiert, der gläserne Hauptbahnhof ist fertig. Und das sind nur die Äußerlichkeiten. Gravierender ist, dass die Nazi-Witwen der Achtziger längst zu Grabe getragen worden sind und dass das Konzept „Westdeutschland“ als stinklangweiliges Land jenseits der Zone in den Köpfen junger Menschen kaum noch vorkommt. Das berühmteste Berlin-Stück ist im Reich der Geschichte angekommen.

Lange Zeit hatten sich Volker Ludwig und seine Truppe gewehrt gegen diese Erkenntnis, so wie sie sich gegen die BVG-Pläne gestemmt haben, die wirkliche Linie 1 zu killen. Als könnten sie ihr Stück vor der Veralterung bewahren. Irgendwann fingen die Schauspieler an, Sätze umzuschreiben, wegzulassen oder hinzuzudichten. Die Mauer flog raus aus den Songs, und Darsteller Thomas Ahrens sang nicht mehr „Berlin, du einzige Stadt auf der Welt, wo nach allen Richtungen Osten ist“, sondern „Osten war“. Später wurde aus Mark Euro und aus Kabelfernsehen Premiere World. Doch je mehr seine Schauspieler versuchten, sich der neuen Wirklichkeit anzubiedern, desto finsterer blickte Ludwig drein, wenn er abends im dunklen Zuschauerraum saß.

„Linie 1“ ist Berlin? Die Gleichung schien nicht mehr aufzugehen. Alle Halbherzigkeiten konnten nichts daran ändern, dass die Endstation der Linie 1 im Stück immer noch „Schlesisches Tor“ heißen musste und nicht „Warschauer Straße“. Und wo waren die plötzlich allgegenwärtigen Handys, wo die zugezogenen Hauptstadt-Rheinländer? In der „Linie 1“ des Grips-Theaters nicht existent. Genauso wenig wie die neuen Szenebezirke im Osten. Eine Weile lang schien es so, als könnte das Stück gerade im Inkonsequenten, im Pendeln zwischen dem Gestern und dem Heute ein Spiegelbild der Stadt bleiben, die sich doch auch nicht entscheiden konnte zwischen Überkommenem und Zukunftswahn, zwischen Westberliner Mief und neuer Yuppie-Mitte. Besonders Ahrens und Dieter Lehmann, die dritte Originalbesetzung, schwärmten von dieser Unentschlossenheit und dachten sich neue Gags aus, um das 21. Jahrhundert ins Achtziger-Stück einzubauen. Zum Ärger von Volker Ludwig. „Es funktionierte einfach nicht mehr“, sagt er. Das Unfertige der Stadt hatte nichts mehr mit dem Unfertigen des Stücks zu tun. Ludwig sprach ein Machtwort, das Theater kehrte im August 2004 zur Urfassung zurück.

Seitdem leuchtet vor der ersten Szene ein Schriftzug auf der Bühne: „Westberlin, 1986“, Ahrens besingt wieder das „Maueridyll“, und die namenlosen U-Bahnmenschen ducken ihre Gesichter hinter der BZ mit der Tschernobyl-Schlagzeile: „Die Strahlen-Katastrophe“. Und das Seltsamste ist: Die Gleichung geht wieder auf. So kommt es, dass auch im Jahr 2006 Sprachschüler aus der französischen Schweiz von ihrer Lehrerin ins Grips-Theater geschleppt werden, damit sie die Stadt begreifen lernen. Und die Familie aus Goslar in Niedersachsen mit den zwei kleinen Jungs wurde von der Frau in der Vorverkaufsstelle hergeschickt, das sei was für Kinder, hat sie gesagt, und außerdem typisch Berlin.

Ja, aber welches Berlin? Das von 1986? Oder das von 2006? „Spielt doch keine Rolle“, sagt Thomas Ahrens, als er sich nach dem Stück eine Zigarette dreht. Er hat seinen Frieden mit der Entscheidung des Chefs gemacht, mehr als das: Inzwischen findet er sie richtig. „Seit der moderne Ballast weg ist, kommt die Botschaft viel eindeutiger rüber.“ Könnte die Botschaft der „Linie 1“ am Ende tatsächlich besser ins Jahr 2006 passen als ins langweilige, harmoniesüchtige Westberlin von 1986? Ein Berlin, das mit 20 Jahren Abstand wie eine Kleinstadt mit zwei Millionen Menschen erscheint, in der Ludwigs Arme-Leute-Welt den meisten wie eine Übertreibung vorkommen musste, wie ein Witzfigurenkabinett, das einen im Grunde nichts angeht. Klar, es gab die betroffenen Momente, etwa, wenn sich die besoffene Lumpi vor eine U-Bahn wirft. Doch die meiste Zeit über durfte man die Schenkel klopfen über Schlucki, Erich und ihren Lebenswitz. Den Subtext konnte man sich wegdenken. Heute, wenn die schwermütige Maria dem Mädchen von ihrer vergeblichen Suche nach einer Lehrstelle erzählt, spüren die Jugendlichen, dass das etwas mit ihnen zu tun hat. „Diese soziale Ungleichheit in der Stadt, die sehe ich doch jeden Tag“, hat Benjamin Singer nach dem Stück gesagt, bevor er mit seinen fünf Freunden in der U-Bahn verschwunden ist. Benjamin ist 18, zwei Jahre jünger als das Stück. Weil es ihm beim ersten Mal so gut gefallen hat, hat er diesmal seine Freunde überredet mitzukommen. Volker Ludwig wäre entzückt. Nicht nur, dass die Kids noch immer kommen. Nein, sie haben sogar kapiert, worum es ihm geht. Grips ist „Linie 1“, und „Linie 1“ ist Berlin? Ja, die Gleichung gilt. Da kann die BVG machen, was sie will.

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