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Kultur: Der Großstadtneurotiker

Moral als Störmanöver: Art Spiegelman zeigt im Martin-Gropius-Bau seine Karikaturen für den „New Yorker“

Im März 1999 erlebte der „New Yorker“ einen handfesten Skandal. Die Post brachte Körbe voller Protestbriefe, und vor der Redaktion versammelte sich eine wütende Menge der besonderen Art: Aufgebrachte Polizeibeamte demonstrierten gegen die Zeitschrift. Stein des Anstoßes war das Titelbild. Es zeigt einen Polizisten, der an einer Schießbude auf Scheiben zielt, die New Yorker Bürger darstellen. Darunter steht: „41 Schuss – zehn Cents“.

Was war geschehen? Im Frühjahr 1999 hatten zwei weiße Streifenpolizisten einen schwarzen Einwanderer mit 41 Pistolenkugeln durchsiebt. Der Afrikaner hatte zuvor in die Jackentasche gegriffen – um seinen Wohnungsschlüssel hervorzuziehen. Die Beamten blieben im Dienst. Das anklagende Titelbild zu dieser Affäre trug die Signatur eines Künstlers, der nicht zum ersten Mal Kontroversen auslöste: Art Spiegelman.

Spiegelman ist Proteste gewohnt. Sie sind das tägliche Brot des Grafikers, dem kein Thema zu heiß und keine Provokation zu plakativ zu sein scheint. Nirgends wird dies so deutlich wie in den Arbeiten für den „New Yorker“, die die „Neue Gesellschaft für Literatur“ jetzt im Berliner Martin-Gropius-Bau präsentiert. Schon Spiegelmans erstes Cover im Jahr 1993 war ein Affront. Es zeigt einen orthodoxen Juden und eine schwarze Frau, die zu einem innigen Kuss verschmelzen. Zur gleichen Zeit lieferten sich im Brooklyner Stadtteil Crown Heights Juden und Afroamerikaner blutige Rassenunruhen. Tina Brown, die damalige Chefredakteurin des „New Yorker“, hatte den Comiczeichner um ein Cover gebeten. Mit skandalösem Erfolg. Denn die Titelgestaltung des bereits in den 1920er Jahren begründeten Magazins galt in ihrer Ästhetik beschaulicher Stadtidyllen als antiquiert. Spiegelmans Titel dagegen katapultierte den „New Yorker“, mit den Worten des Schriftstellers Paul Auster, auf ein neues Weltniveau.

Der Cartoonist war zu dieser Zeit kein Unbekannter mehr. Der 1948 in Stockholm geborene und im New Yorker Stadtteil Queens aufgewachsene Künstler zeichnete beim „Mad Magazine“ Comicstrips für Erwachsene. Wie kaum ein anderer trug er zur Rehabilitierung des verfemten Mediums Comic bei. Weltruhm erlangte er durch seine mit dem Pulitzerpreis gekrönte Bildgeschichte „Maus“, die das Undenkbare wagte und den Leidensweg eines Juden durch die Konzentrationslager der Nazis schilderte – als Comic.

Auch beim „New Yorker“ ließ Spiegelman kein unbequemes Thema aus. Etliche Arbeiten waren der Redaktion zu heiß. Zum Beispiel die Karikaturen zur Lewinsky-Affäre. Auf der Tuschezeichnung gibt Clinton eine Erklärung ab, doch die Reporter richten ihre Mikrofone nur auf den präsidialen Unterleib. In der Berliner Ausstellung kann man neben vielen Originalskizzen nun auch das apokryphe Werk entdecken.

Die Bildkommentare dokumentieren Spiegelmans schwierige Zusammenarbeit mit der Medienwelt. Die High-Society-Sphäre des „New Yorker“ blieb ihm unsympathisch, und auch den Glamour von Hollywood und Pret-à-Porter wollte er nicht illustrieren, sondern karikieren – nicht immer im Einklang mit den Vorstellungen seiner Auftraggeber. Bei allen publizistischen Ehren blieb der Comiczeichner der Undergroundszene verbunden. Dies beweisen beispielhaft mehrere im Stile des Zeichners Jack Cole angefertigte Cartoons. Cole, Erfinder des Superhelden „Plastic Man“, war in den Fünfzigerjahren zu einem gefragten Illustrator beim „Playboy“ aufgestiegen; auf dem scheinbaren Höhepunkt seiner Karriere nahm er sich jedoch das Leben. Spiegelman erklärt sich den Freitod seines Vorbilds so: „Aus dem Urschlamm des Comicbuchs heraus kam er schließlich in einer Luft an, die zu dünn zum Atmen war: Ein Comicgenie starb am Erwachsenwerden.“

Vielleicht möchte auch Art Spiegelman nicht erwachsen werden. 2002 beschloss er, den Vertrag mit dem „New Yorker“ nicht zu verlängern. Das Magazin sei ihm zu konservativ geworden, politisch wie ästhetisch. Zeichnungen, die anti-arabische Übergriffe nach dem 11. September und den Afghanistankrieg kritisierten, waren abgelehnt worden. Zu dieser Zeit inspirierte Michael Naumann, Chefredakteur der „Zeit“, den Freund zu einer Comic-Serie über den Anschlag auf das World Trade Center. Dieser Vorschlag kam gerade recht. Spiegelman wollte wieder frei sein – und Strips zeichnen.

Die Zeit mit dem „New Yorker“ ist somit eine abgeschlossene Werkepoche. Die rund 70 Arbeiten in Tinte, Bleistift, Computergrafik und Acryl (darunter 40 Titelseiten!) lesen sich wie ein illustrierter Roman New Yorks, der auf unvergleichliche Weise von den Eigenheiten, dem Witz und den Problemen dieser Stadt erzählt. Seinen Autor kann man getrost einen notorischen Provokateur und Störenfried nennen – er wäre sicher stolz darauf. Hinter dem oft anstößigen Werk verbirgt sich nämlich ein unbequemer Zeitgenosse, der in Wahrheit ein Moralist und Humanist von hohen Gnaden ist – vielleicht sogar einer der Letzten.

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, bis zum 17.9., Mi bis Mo 10 – 20 Uhr. Podiumsgespräch mit Art Spiegelman am 26. August um 18 Uhr (Kinsosaal). Der Katalog erscheint im August beim Verlag 2001

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