zum Hauptinhalt

Kultur: Der Guru

Karlheinz Stockhausen wäre heute 80 geworden

Elektronische Gluckser durchschneiden den Raum und verschwinden. Im Nachhall geschieht Wunderbares: Eine Knabenstimme tönt aus weiter Ferne, rein, lockend wie ein Sirenenruf. Weitere Stimmen gesellen sich dazu, allmählich wird Text verständlich: „Preiset den Herrn“.

Der Beginn von Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ ist so schön, dass man ihn nie vergisst. Für seine Realisierung im Elektronischen Studio des WDR Mitte der fünfziger Jahre brauchte der Komponist Monate. Seitenlang hat Stockhausen damals über Sinuskomplexe, Impulsscharen, Rauschbänder und Plosivlaute referiert. Es war das technoide Kauderwelsch einer Kunst, die nichts so sehr fürchtete wie die unkontrollierte Emotion, die Deutschland in den Untergang begleitet hatte. Es macht Stockhausens Genie aus, dass sich bei ihm noch die unbestechlichste Logik in Poesie verwandelte – oft unter der Hand.

So ist der „Gesang der Jünglinge“ auch ein Selbstporträt des Komponisten als junger Mann. Der Sirenenruf: Er galt 1956 nicht nur einer Jugend, die den korrumpierten Vätern das Heft aus der Hand nehmen sollte. Es war auch der Ruf nach der eigenen Mutter, die mit Depressionen in eine Nervenklinik kam und 1941 umgebracht wurde. Dieser traumatische Verlust, aber auch der Fronttod des Vaters und die Kriegserlebnisse nährten die Sehnsucht nach Anerkennung, die Stockhausens unglaubliche Energie und seinen Willen zur Macht bestimmte.

Serialismus, elektronische Musik, Aleatorik, Momentform, intuitive Musik, Formelkomposition – meist war Stockhausen der Erste, der alte Regeln umstürzte und neue setzte. Wer seine Dominanz anzweifelte, wurde bestraft: Kollegen, renitente Kinder, die Frauen. „Wenn du nicht besser bist als ich, dann diene mir“, so der Komponist zu der Malerin Mary Bauermeister. Seine beiden letzten Lebensgefährtinnen verwalten heute Verlag und Archiv des im vergangenen Dezember verstorbenen Komponisten – zwei Cosimas, die dem Willen des Meisters unerbittlich dienen.

Nicht zu vergessen die Religion, die im „Gesang der Jünglinge“ mit einer kraftvollen Episode aus dem Buch Daniel aufwartet: Dem Lobgesang im Feuerofen, der für den Katholiken Stockhausen zugleich Gottvertrauen und Widerstand gegen jeden Götzendienst symbolisierte. Bei der Uraufführung wurde der Komponist deshalb der Blasphemie bezichtigt – ein Irrtum, denn mit der altmodischen Gleichung Avantgarde = Atheismus kam man seiner Komplexität nicht bei. Und als man 1968 von ihm Solidarität mit der Linken erwartete, entzog er sich auch diesem Götzen, driftete in asiatisch-esoterische Spiritualitäten ab. Wie Wagner im „Ring“ schuf Stockhausen seinen persönlichen Mythos, in dem Himmel und Erde, Gutes und Böses, die Elite und die Masse umwerfend naiv und musikalisch ambitioniert vorgeführt wurden – bis hin zu seinem himmelstürmenden Helikopter- Streichquartett.

Bis heute interessieren sich nur wenige Theater für den siebenteiligen Opernzyklus „Licht“ – vielleicht, weil Stockhausen hier vor allem von sich selbst erzählt. Im „Gesang der Jünglinge“, im Ruf des Knaben, war die Sehnsucht nach Liebe und Erlösung noch echt. Beim späten Stockhausen wurde sie zur guruhaften Manier. Michael Struck-Schloen

Neben Anton Bruckner und Olivier Messiaen steht Karlheinz Stockhausen ab 4. September im Zentrum des Berliner Musikfestes. Programm und Informationen unter www.musikfest-berlin.de

Michael Struck-Schloen

Zur Startseite