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Foto: Heinz Hirndorf/dpa

© picture alliance / dpa

Kultur: Der gute Mann vom Schulzenhof

Naturidylle mit Staatssicherheit: Erwin Strittmatters Tagebücher 1954-1973.

Er habe, zitierte sich Erwin Strittmatter 1990 aus Tagebüchern von 1980, in zwei Diktaturen gelebt, die einander ablösten. „Die zweite war eine, die ich nach anfänglichem Zögern für einige Jahre bejahte, bis ich erkannte, dass sie nicht die Diktatur einer Klasse, sondern, wie die vorhergehende Diktatur, einer Clique war. Sie zwang mich, nach dem Schema: Eins hin – zwei im Sinn – zu schreiben, und die Zwei im Sinn konnte ich nicht einmal in voller Schärfe ins ganz und gar persönliche Tagebuch schreiben. Ich musste an Haussuchungen und heimliche Schnüffler denken.“

Dazu hatte er allen Grund: 22 Jahre zuvor, im September 1958, hatten ihn zwei Mitarbeiter der Staatssicherheit auf seinem „Schulzenhof“ in Dollgow besucht und den Empfang durch ihn als „freundlich, aber etwas zurückhaltend“ empfunden. Doch „während des weiteren Gesprächsverlaufs wurde festgestellt, dass Genosse Strittmatter seine reservierte Haltung vollkommen aufgab und zuletzt sehr aufgeschlossen unseren Fragen gegenüberstand“. Als Geheimer Informator lieferte er zwei Jahre Informationen über Kollegen, darunter seinen „republikflüchtigen“ Freund Peter Jokostra, von dem er sich mit einem Abschiedsbrief voll „politisch-poetischer Perfidie“ distanziert hatte, – wie Volker Weidermann in der „FAZ“ befand .

Nichts davon im Tagebuch, das unter dem Datum 13.9.1958 nur „zwei Genossen vom Ministerium des Innern“ und als Gesprächsthema „Verbandsfragen“ erwähnt: „Wie soll das neue Sekretariat des Schriftstellerverbands aussehen?“

Dabei weiß Strittmatter spätestens beim dritten Treffen, dass es sich bei einem der Besucher um den für den Verband „zuständigen Genossen vom MfS“ handelt, der in Strittmatters „Schlüsselposition als 1. Sekretär des DSV“ die Möglichkeit sieht, dass „unsererseits durch Anregungen und Empfehlungen eingewirkt werden kann“. Am 11. Juni 1959 wird Strittmatter „mündlich verpflichtet und der Deckname ,Dollgow’ vereinbart“. So steht es im Protokoll von Leutnant Paroch. Strittmatters Tagebuch macht vom Juni 1959 bis Juni 1960 Pause – was wohl nicht nur an der undurchsichtigen Editionspraxis von Almut Giesecke liegt. Auch Strittmatters Gedächtnis hat Lücken, wenn er sich 13 Jahre später im Juli beschwert: „Die Staatssicherheit schickte schon wieder jemand ... Wann hört das auf? Was wollen die Schnüffler von mir?“

Er weiß es doch schon seit 1958 und hat noch im März 1970 notiert, an jeder Sitzung im Verband nehme jetzt offiziell-inoffiziell ein Vertreter des Zentralkomitees und der Stasi teil: „Es können also nie ,ungelenkte’ Beschlüsse gefasst werden. Jede abweichende Meinung eines Mitgliedes, und sei sie noch so geringfügig, wird sofort von den beiden SPANNERN (anders kann ich diese Leute nicht mehr bezeichnen) registriert.“

Inzwischen ist Strittmatter selbst ins Visier der Partei und ihrer Staatssicherheit geraten, obwohl er die Verhaftung seines Verlegers Walter Janka, die Absetzung Peter Huchels als Chefredakteur von „Sinn und Form“ und den Bau der Berliner Mauer beifällig kommentiert hatte. Im „Fall Janka“ habe „die Dummheit bestraft werden“ müssen, „wie jetzt in China. Zurück zur Handarbeit mit dem Lohn einfacher Handarbeiter auf Staatsfarmen“.

Seine eigene Strafe für den mäßig parteikritischen Roman „Ole Bienkopp“ fällt allerdings milder aus, mit einem Nationalpreis „nur“ 3. Klasse. Aufbau-Cheflektor Günter Caspar und Verlagsleiter Klaus Gysi bemängelten an „die Tendenz, dass unser Leben ohne Partei-Apparat und Staatsapparat auskommen könnte“. Der gekränkte, aber durch den Publikumserfolg und eine Lizenzausgabe in der Bundesrepublik bestärkte Autor zeigte fortan, dass er das sehr wohl konnte, und zwar als Gutsherr und Pferdeliebhaber auf dem Schulzenhof, den er 1971 durch ein neues Wohnhaus erweiterte, „in dem ich, sofern uns nicht Krieg oder Konterrevolution aus unserem Garten treiben, meine letzten Lebensjahre verbringen werde“. So ganz klar, von wem er eine Konterrevolution fürchtete, wird allerdings nicht, wenn er Heiner Müller als „Revoluzzer und Konterrevolutionär“ und Peter Hacks als „Konvertit“ bekriegt, während er bei Solschenizyn vor dessen Ausbürgerung „keine politische Gehässigkeit“ entdecken kann und ihn „den russischen Klassikern würdig“ zur Seite stellt. Das hindert ihn wiederum nicht, 1976 Hermann Kant beizupflichten, „dass es ihrer Ansicht nach an der Zeit wäre, Kunze aus der DDR auszuweisen“.

Diese Bemerkung ist vorerst nur durch das Zeugnis des Verbandssekretärs Gerhard Henniger belegt, denn die jetzt publizierte „Tagebücher“-Auswahl beschränkt sich auf die Jahre 1954 bis 1973 und spart – bis auf anekdotische Rückblicke – sowohl Strittmatters Jahre an der Seite Brechts wie die des unfreiwilligen und freiwilligen Exils der besten DDR-Autoren nach Biermanns Ausbürgerung aus. Dabei enthält auch diese Auswahl noch unkommentierte Auslassungen, über deren Kriterien – Rücksicht auf Privatissima oder Persönlichkeitsrechte Dritter? – die Herausgeberin im Nachwort kein Wort verliert. Warum die von Strittmatters erster Frau aufbewahrten und ihm zurückgegebenen Tagebücher vor 1945 ausgespart bleiben, deutet Almut Giesecke immerhin mit ihrem Bedauern über die „fehlende Reflexion seiner Kriegsvergangenheit“ bei einer SS-Polizeitruppe an.

Die Amnesie teilt der über Kollegen gern auftrumpfende Strittmatter mit seinem West-Kollegen Günter Grass, dessen „mittelmäßiger literarischer Produktion“ er nichts abgewinnen kann, so wenig wie dem „Grünschnabel, Schwätzer und ignoranten Klugscheißer“ Enzensberger. Ist das Kalter Krieg oder überhitztes Selbstbewusstsein, wenn er auch DDR-Kollegen abtut: Christa Wolf bereitet ihm „bei so viel vorgegebenem Tiefsinn Kopfschmerzen“, Stefan Heym ist „impertinent“, Bodo Uhse und Stephan Hermlin sind „mit intellektuellem Hochmut gesegnet“, Helene Weigel „kann kein Theater leiten“. Nur jüngere Autoren und Autorinnen hat er, nach dem Zeugnis von Brigitte Reimann, selbstlos und mit viel Verständnis gefördert. Kafka hingegen findet er „scheußlich“, seinen Lehrmeister Brecht schulmeistert er: „Er schimpfte viel über politische Fehler, die wir machten, aber er verhinderte sie zu wenig.“ Wie er selbst! Gelten lässt er nur seine Frau Eva: Sie habe als Dichterin „alle in Deutschland zur Zeit lebenden Lyriker hinter sich gelassen“.

Und ist es Achtlosigkeit oder Missachtung, wenn er ihm wohlbekannte Autorennamen hartnäckig falsch schreibt: „Günter Kuhnert, Anna Seeghers, Erik Neutzsch“. Immerhin buchstabiert er auch „Honnecker“ und „Ullbricht“ falsch. Diesem widmet er nach einer Sitzung vor dem VI. Parteitag sogar ein Hassgedicht: „Der kleine Diktator macht sich auf. / Man erkennt, wie dumm er ist. / Der preußische Oberlehrer. / Gehorsam. / Der hinter dem Rücken versteckte Stock. / Er prügelt. / Man erkennt, dass kein Sperling in der Kunst schilpt, ohne dass er mit seinen kleinbürgerlichen Kunstansichten es ihm erlaubt hätte./ Die Künstler gehen bedrückt nachhause.“ Nachsatz: „Noch am Abend nach Schulzenhof zurück.“

Später erwägt er sogar den Parteiaustritt, mokiert sich über die Scheinwahlen und die fehlende Reisefreiheit. Die führenden Genossen hielten es „für selbstverständlich, dass sich die jungen und jüngsten Generationen ihren Vorstellungen vom Leben beugen. Ich glaube, das wird nicht gutgehen“. Er selbst zieht sich ins Landleben zurück. War nach Stalins Demontage 1956 noch Lenin sein Idol („Ich muss mich mehr um ihn kümmern“), entdeckt er jetzt Tolstoi und Thoreau als Leitbilder seines Lebens unter Mitmenschen und in der Natur, deren Beobachtung bald die Hälfte seiner Tagebücher füllt.

Ralf Schnell hat Strittmatter in seiner Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 etwas boshaft einen Heimatdichter der DDR genannt. So wollen es bis heute manche Nostalgiker sehen. Aber Strittmatters Heimat war längst nicht mehr die DDR, sondern der Schulzenhof. Dass er schon 1953 ein Buch schrieb mit dem Titel „Eine Mauer fällt“, war allerdings nur eine Pointe des Zufalls. Dort heißt es: „Man muss sich doch rühren, ehe das Ding zusammenkracht.“ Nicht er, seine Leser haben das 1989 beherzigt.

Erwin Strittmatter: Nachrichten aus

meinem Leben.

Aus den Tagebüchern 1954 - 1973. Hg. von

Almut Giesecke.

Aufbau Verlag,

Berlin 2012.

600 Seiten, 24,99 €.

Hannes Schwenger

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