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Kultur: Der gute Wille

Bosnien, Dänemark, Iran: Bei der 56. Berlinale triumphieren die Werke, die Hoffnung machen wollen

Die Übermacht des deutschen Kinos erschien am Ende fast erdrückend. Mit „Requiem“, dem letzten Wettbewerbsfilm, hatte Hans-Christian Schmid den disziplinierten und wuchtigen Schlusspunkt unter einen kollektiven Auftritt gesetzt, der die gewachsene Vitalität und Vielseitigkeit des heimischen Kinos eindrucksvoll unterstrich. Filmjournalisten wie Publikum waren sich einig, von hymnischen Kritiken bis zum 20-Minuten-Applaus bei der Gala-Premiere: „Requiem“, der Film über das Martyrium eines verdrucksten Kleinstadtmädchens, das sich vom Teufel besessen glaubt, war der stärkste unter den starken deutschen Anwärtern auf einen Goldenen Bären.

Die Jury unter Präsidentin Charlotte Rampling hat es – abgesehen von einem „Requiem“-Darstellerinnenpreis für die formidable Sandra Hüller – anders gesehen. Und das mit vier von 19 Wettbewerbsfilmen auch proportional grenzwertig hoch besetzte deutsche Kino scheinbar salomonisch quotierend auf die Plätze verwiesen. Je ein Profi-Schauspieler aus je einem deutschen Film wurde ordentlich bedacht – neben Sandra Hüller auch Jürgen Vogel für seine Parforce-Tour als Vergewaltiger in „Der freie Wille“ und Moritz Bleibtreu, der spät im Leben erlöste Held aus „Elementarteilchen“. Nur Valeska Grisebachs „Sehnsucht“, ein weiterer Kritikerliebling, musste, weil mit Laien besetzt, da wohl zwangsläufig leer ausgehen.

Drei Preise für den deutschen Film – und doch keinen für die Filme. Stattdessen die wichtigsten Auszeichnungen für Beiträge, die niemand so recht auf der Rechnung hatte: Ist das jetzt ein Skandälchen wie letztes Jahr, als eine eigentümlich kunstfilmfern besetzte Jury sich munter auf den bedeutungsarmen Exoten „U-Carmen“ festgelegt hatte, die Township-Version von Bizets Oper? Oder ist das Urteil ein heilsamer Schock für alle Berlinale-Beteiligte, von den Kritikern bis zum Oberprotektionisten des deutschen Films, Dieter Kosslick höchstpersönlich – ein klares Votum auch gegen den neuen deutschen Tunnelblick?

Jurys ticken anders. Die verwunderliche, aber keineswegs ganz abwegige Entscheidung für einen bosnischen (Jasmila Wbaniks „Grbavica“) und einen dänischen Erstlingsfilm (Pernille Fischer Christensens „En Soap“) sowie die ungewöhnliche Fußball-Komödie „Offside“ des Iraners Jafar Panahi geht nicht gegen den deutschen Film. Sie geht überhaupt gegen nichts. Jurys sprechen sich vielmehr für etwas aus. Diese Jury nun würdigte das noch nicht so Bekannte. Den Aufbruch. Sie prämiert – auf Kosten von stringenter erzählten Konkurrenten – Filme, die allesamt von schwierigen Verhältnissen erzählen, aber Hoffnung machen wollen. Drei Happy-Ends, irgendwie. Das derzeit beste Kino der Welt: Ist es vor allem Mutmacher in fraglos schwierigen Zeiten?

„Grbavica“ – der Name des Stadtteils von Sarajewo bedeutet: „die Bucklige“ – erzählt von der Lebenskatastrophe einer Bosnierin, die im Krieg immer wieder vergewaltigt wurde und der zwölfjährigen Tochter widerstrebend die Wahrheit über die Umstände ihrer Zeugung eröffnet. Das Teilen dieses Geheimnisses macht beide frei – und eröffnet ihnen eine neue Nähe zueinander. „Offside“ zeigt, anhand des iranisch-bahrainischen WM-Qualifikationsspiels, auf welch aberwitzige Weise moderne Teheraner Mädchen am Stadionbesuch gehindert werden, dann aber geht die Strafverfolgung im nationalen Siegestaumel unter. Und in „En Soap“ findet die als Ulrik geborene, allein lebende transsexuelle Veronica in der beziehungsgeschädigten Nachbarin Charlotte eine Freundin.

Zweimal sind es die politischen Verhältnisse, die das individuelle Leben lähmen, einmal ist es die Gesellschaft, die die Transsexuellen isoliert. Und doch triumphieren, gegen jedwede Art von Trauma, die Familie, die Jugend, die Freundschaft. Das Leben. Und: Mit je einem Silbernen Bären für Dänemark und Iran mag die Jury auch einen sanftes Plädoyer für die Gemeinsamkeiten der Weltkunst gegen alle Karikaturenstreiterei in beiden Ländern abgegeben haben.

Kein Wunder, dass da viele nicht mithalten konnten – nicht nur die deutschen Filme, die von Opferung („Requiem“), elegischem Selbstmord („Der freie Wille“), schrillem Happy-End („Elementarteilchen“) und sehr offenem Ende („Sehnsucht“) so manches im Gepäck hatten, nur eben: nicht gerade Hoffnung. Locker formuliert: Geradezu todesmutig lebensfroh ging die Jury an allerlei spröden Verliererdramen vorbei, über die in diesen Tagen so viel diskutiert worden war. Und ließ allerdings auch das erstaunlich gut aufgelegte Altmeister-Trio um Robert Altman, Sidney Lumet und Claude Chabrol beiseite. Nur der eifrige Michael Winterbottom, der den aus Guantánamo entkommenen „Tipton Three“ ein Denkmal setzte und sein stereotypes Happy- End inmitten politischer Verfinsterung beisteuerte, wurde von der konzeptionell sorgfältigen Jury nicht übersehen.

Wie man es auch wendet: Irgendetwas ist vor allem aus deutscher Sicht ganz und gar nicht aufgegangen bei dieser Berlinale. Das Verfahren, den Wettbewerb mit heimischer Ware fast zu überfrachten, führt auf internationalen Festivals immer zu Distanzbemühungen aller anderen Beteiligten – die von ihrem jeweiligen nationalen cineastisch-industriellen Komplex stets bedrängten Festivals von Cannes oder Venedig haben damit ihre schmerzhaften Erfahrungen gemacht.

Berlinale-Chef Kosslick wird zudem darauf achten müssen, dass seine bislang munter und erfolgreich tönende Dauerwerbetrommel für den deutschen Film seinem Festival nicht auf Dauer schadet. Das Niveau der 56. Berlinale war insgesamt – nach dem dünnen Eröffnungsfilm „Snow Cake“ – äußerst mäßig. Was aber keineswegs bedeutet, dass die internationale Konkurrenz schwächelt. Sie weicht nur aus und sucht sich andere Aufmerksamkeitsmärkte. Das Ergebnis für Berlin wäre ein Regionalisierungseffekt der unerwünschtesten Art.

Das asiatische Kino zum Beispiel, die seit Jahren prosperierendste Gegend der Filmwelt, war auf dem Wettbewerb mit zwei ihre Poesie fast ins Klischee treibenden Werken („Isabella“, „Invisible Waves“) vertreten. Kim Ki-duk und Jia Zhang-ke dagegen, um nur zwei herausragende Namen aus Korea und China zu nennen, präsentieren ihre neuen Filme lieber in Cannes. Oder Südamerika: War aus den wiedererstarkenden Filmindustrien Argentiniens, Brasiliens und Chiles nichts Besseres zu finden als das erzählerisch hart an der Nulllinie operierende Leibwächter-Porträt „El custodio“?

Auch der Auftritt der Altmeister Altman, Chabrol und Lumet, so locker sie manch angestrengtem Erzählentwurf den Spiegel der Erfahrung entgegenhielten, erscheint so in anderem Licht. Denn jene großen Regisseure, die auf der Höhe ihrer Schaffenskraft noch Überraschungen, Wagemut und neue Meisterwerke erwarten lassen, sind durchweg für Cannes angekündigt – die Coen-Brüder und Gus van Sant oder Aki Kaurismäki und David Lynch. Und für die aufregendsten neueren Namen, etwa Sofia Coppola und Alejandro González Iñárritu, gilt das sowieso.

In den ersten drei Jahren der Ära Kosslick hatte die Berlinale atemberaubend zügig zu Cannes aufgeschlossen – einem Cannes allerdings in der Krise des personellen Übergangs. Das vergangene Berlinale-Jahr war in mancherlei Hinsicht katastrophal – 2006 hat das Festival zwar die gröbsten Fehler vermieden, doch die Stabilisierung geschieht auf lauem Niveau. Sicher wuchs die Berlinale, vor allem beim Europäischen Filmmarkt, auch diesmal wieder beeindruckend. Der Terminkalenderwechsel des mit der Berlinale bislang stets fast kollidierenden American Film Market (AFM) in den Herbst stärkt Berlin – es darf sich nun, hinter Cannes und dem AFM in Santa Monica, auf Platz drei der weltgrößten Umschlagplätze der Kinobilderindustrie sonnen. Aber nach den Jahren der Expansion ist die Zeit reif für neue Konzentration, im Herzstück des Festivals: für die konzentrierte und überzeugungsstarke Jagd nach noch besseren Filmen.

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