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Kultur: Der Historiker Eric Hobsbawm über soziale Ungleichheit und die Verantwortung des Staates

Eric Hobsbawm (82), geboren 1917 in Alexandria als Sohn eines Briten und einer Österreicherin, ist einer der letzten großen Universalhistoriker. Bis zu seiner Emeritierung 1982 lehrte der unorthodoxe Marxist an der University of London, nebenbei schrieb er Jazzkritiken.

Eric Hobsbawm (82), geboren 1917 in Alexandria als Sohn eines Briten und einer Österreicherin, ist einer der letzten großen Universalhistoriker. Bis zu seiner Emeritierung 1982 lehrte der unorthodoxe Marxist an der University of London, nebenbei schrieb er Jazzkritiken. Große Wirkung hatte sein 1995 erschienenes Buch "Das Zeitalter der Extreme" (Carl Hanser). Mit Eric Hobsbawm sprachen Christian Böhme und Hans Monath.

Herr Hobsbawm, Sie haben in Ihrem Werk eine eher pessimistische Bilanz des 20. Jahrhunderts gezogen. Wird das 21. Jahrhundert ein besseres?

Es ist schwer, sich vorzustellen, dass es ein schlechteres wird. Wirtschaftlich und technologisch wird es aufwärts gehen. Die großen Probleme aber bleiben.

Welche Probleme sind das?

Die Globalisierung zum Beispiel bringt wachsende Ungleichheit hervor. Diese Ungleichheit entwickelt sich weltweit zur sozialen Gefahr.

Wie kann man das verhindern?

Dazu braucht es staatliche Eingriffe und staatliche Kontrolle. Die globalisierte Wirtschaft beseitigt Ungleichheit nicht, im Gegenteil: Sie vergrößert die Ungleichheit.

Viele Ökonomen verkünden als Rezept: Hebt Beschränkungen auf, überlasst die Gesellschaft den Kräften des freien Marktes - dann geht es letztlich allen besser. Klingt das nicht verlockend?

Das ist ein theologisches Argument, kein wissenschaftliches. Der einzige Versuch, von einem auf den anderen Tag eine wirklich freie Marktwirtschaft einzuführen, hatte katastrophale Folgen: in Russland nach 1991. Meine These ist ja, dass sich der Kapitalismus in einem erstaunlichem Maße auf das Erbe von vorkapitalistischen Gesellschaften verlassen kann. Das System arbeitet besser, weil es sich auf Faktoren wie etwa Arbeitsethos oder kulturelle Überzeugungen verlassen kann, die nicht vom System selbst hervorgebracht werden. Der Erfolg des Kapitalismus bestand bislang darin, dass er sich nicht nur auf kapitalistische Methoden zu verlassen brauchte.

Der Kapitalismus hat auch in Russland zumindest mehr individuelle Freiheit für die Menschen gebracht.

Natürlich gibt es mehr Freiheit. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Zugleich hat sich in Russland in den vergangenen zehn Jahren die Lebenserwartung der Männer um zehn Jahre verringert. Das muss man mitbedenken: angesichts der Freiheit reicher Russen, heute in Las Vegas Ferien machen zu können! Ich glaube aber ohnehin, dass die große Zeit der Ideologien vorbei ist, die des Staatssozialismus ebenso wie die des unkontrollierten freien Marktes.

Immerhin verzichten die Verfechter des freien Marktes in Russland auf nationalistische Töne. Das müssten Sie als erklärter Gegner des Nationalismus doch gutheißen.

Ich bin zwar gegen nationalistische Bewegungen und nationalistische Mythen. Andererseits bin ich überzeugt, dass der territoriale Nationalstaat etwas Positives ist, eine positive Ergänzung zur Globalisierung.

Kann ein Nationalstaat der globalisierten Wirtschaft überhaupt Paroli bieten?

Es ist doch nur Rhetorik, wenn man sagt: Nichts kann der Globalisierung widerstehen. Das glaube ich nicht. Die Politik hat Jahre lang der Globalisierung erfolgreich widerstanden. Zum Beispiel gab es schon vor 1914 so etwas wie eine globalisierte Wirtschaft. Nicht nur Waren und Kapital waren mobil, sondern auch die Arbeitskräfte. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gab es auch Globalisierung, jedoch ohne die Freizügigkeit der Arbeit, im Gegenteil. Kein Land der Welt erlaubt die freie Einwanderung, weil sie politisch untragbar ist. Die Migration gehört zwar idealtypisch zur Globalisierung, aber dieser Teil der Freiheit kann einfach nicht realisiert werden. Die Wirtschaft hat es nicht geschafft, sich über diese Beschränkung hinwegzusetzen.

Können europäische Regierungen sich der globalisierten Wirtschaft widersetzen, sie zu kontrollieren versuchen, ohne den Wohlstand ihrer Länder zu mindern?

Praktisch ist das möglich. Die Frage, ob sich das günstig auf die eigene Wirtschaft auswirkt, darf man durchaus stellen. In der letzten Wirtschaftskrise, 1998, hat sich ein Land vom Weltmarkt abgekapselt: Malaysia. Und das ist dem Land - bislang - ganz gut bekommen.

Sie sind überzeugt, dass kapitalistische Gesellschaften nur deshalb nicht in Chaos versinken, weil Faktoren wirken, die die Wirtschaft selbst nicht hervorbringt - etwa das politische Bewusstsein der Menschen. Können wir uns im kommenden Jahrhundert weiter auf diese Faktoren verlassen?

Nicht nur politische Faktoren, sondern das ganze Instrumentarium der Politik wird schwächer werden. Das gilt vor allem für das Parteiensystem. Die Entwicklung der politischen Beziehungen wird zu einem Problem für die Demokratien werden.

Inwiefern?

Indem der Mensch sich entscheidet, ob er nur Kunde sein will oder auch Bürger. Das ist die ideologische Herausforderung der Globalisierung. Der Mensch macht das, was ihm Spaß macht - er kauft, er konsumiert. Wozu braucht man dann überhaupt noch die Politik? Die Konsumgesellschaft erfasst nicht nur das Privatleben, sie privatisiert auch die Öffentlichkeit. Eine Demokratie braucht jedoch auch ein gewisses Maß an Mobilisierung der Menschen als Bürger. Das wirkt sich am Wahltag aus, wenn die Menschen sich einmischen - auch wenn sie es nur symbolisch tun. Heutzutage machen das die Leute nicht mehr gerne, im Gegenteil. Vielleicht sollte man die Wahllokale in die Supermärkte verlegen.

Das hört sich an, als ob Sie in den Kräften der Wirtschaft eine Gefährdung der Demokratie sehen.

So ist es. Sie unterhöhlen das, was wir traditionell als Demokratie betrachten. Die Tatsache, dass die Leute heute viel seltener wählen gehen, ist gefährlich. Ich bin bestürzt, dass zum Beispiel vor zwei Jahren in den USA nur 36 Prozent der Bürger sich an der Wahl zum Repräsentantenhaus beteiligten. Es stimmt etwas nicht, wenn die Wahlbeteiligung in fast allen westlichen Ländern abnimmt. Es war ein besonderes Phänomen des 20. Jahrhunderts, dass die Politik die große Leidenschaft aller war. Das ist vorbei. Die Gefahr ist heute, dass die Politik eine Angelegenheit für Minderheiten wird, dass sie Interessengruppen überlassen wird.

Kann man das verhindern?

Ich habe kein Patentrezept. Es besteht die Gefahr, dass in der Politik der Typus des charismatischen Führers wieder aus der Versenkung auftaucht. Denken Sie an Jörg Haider, der in Österreich so viele Stimmen für die politische Rechte geholt hat.

Die eigentliche Leistung der demokratischen Linken in Europa im 20. Jahrhundert war der Sozialstaat. Der muss unter erheblichem Druck reformiert werden. Vor einigen Jahren waren Sie noch skeptisch, dass dies gelingen würde. Heute versuchen Tony Blair und Gerhard Schröder, diese Aufgabe zu lösen. Sind deren Ansätze erfolgsversprechend?

Es ist nicht leicht vorherzusagen, ob das gelingen wird. Doch die Legitimierung dieses Versuches überzeugt nicht. Es heißt, man könne sich den Sozialstaat nicht mehr leisten, weil die Sozialausgaben die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft beeinträchtigten. Aber wir leben in Ländern, die sich den Sozialstaat leisten können. Wir werden weiter in reichen Ländern und damit weiter im Glück leben. Und daran wird sich nichts ändern, selbst wenn die deutsche Wirtschaft gegenüber einer anderen zurückfallen sollte.

Blair und Schröder sagen, Gerechtigkeit und Marktkräfte gingen in ihrem neuen sozialdemokratischen Konzept durchaus zusammen.

Ich bin da eher auf der Seite Lionel Jospins. Jospin sagt: Zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist die Sozialdemokratie der Mittelweg. Aber der sogenannte Dritte Weg ist ein Mittelweg zwischen Sozialdemokratie und Kapitalismus. Das halte ich für gefährlich. Man darf den Staat nicht aus der Verantwortung für die soziale Sicherung entlassen.

Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft der vergangenen Jahrzehnte. Geben Sie ihm auch eine Zukunft im kommenden Jahrhundert?

Ich meine, ja. Die Menschen glauben doch, dass der Staat Verantwortung für sie hat - sogar in Italien, wo niemand viel vom Staat erwartet, glauben die Menschen das. Nur eine kleine Schicht von Reichen wird darauf vertrauen können, dass sie aus eigener Kraft und ohne staatliche Regulierung für das Alter vorsorgen kann. Alle anderen bleiben angewiesen auf staatliche Institutionen oder Einrichtungen. Auch wenn sie selbst bezahlen, muss der Staat Rahmenbedingungen schaffen und wenigstens ein Mindestniveau Staat garantieren.

Sie sind Historiker. Der politische Bürger, der Ihrer Meinung nach auszusterben droht, hatte ein Interesse für Geschichte. Hat auch der Konsum-Bürger ein Interesse an der nicht konsumierbaren Vergangenheit?

Strukturell nicht, existenziell ja. Die Konsumgesellschaft will aktuelle, schnell vergängliche Wünsche erfüllen. Sie ist die Gesellschaft der ständigen Gegenwart. Trotzdem gibt es ein riesiges Interesse an der Vergangenheit. Die Menschen wollen wissen, wie es einmal war, wie die Beziehung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ist. Eine Antwort allerdings auf die Frage, was die Zukunft bringt, erwarten sie nicht von der Geschichte.

Kann die Vergangenheit also dabei helfen, unsere gegenwärtigen Probleme zu lösen?

Die Geschichte braucht man, um zu erkennen, worin die heutigen Probleme bestehen. Nicht einmal die technologischen Probleme können nur technologisch gelöst werden, ohne auf den Kontext der Wirklichkeit einzugehen, und diese Wirklichkeit kommt aus der Vergangenheit. So wäre es nach dem Fall der Mauer nützlich gewesen, wenn Europas Außenminister ein Kolloquium über den Versailler Vertrag veranstaltet hätten. Da hätte man viel über den Krisenherd Balkan lernen können.

Die Historiker sind nicht gefragt worden.

Leider nein.Eric Hobsbawm spricht am Sonntag um 11 Uhr 30 bei den "Berliner Lektionen" über "Das 20. Jahrhundert: Zeitalter der Extreme" im Renaissance-Theater.

Herr Hobsbawm[Sie haben in Ihrem Werk eine eher p]

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