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Kultur: Der Hit-Navigator

Hype Machine und Last.fm: die neue Ordnung der virtuellen Musikwelt

Mick Jones kennt das Gefühl. Ohnmacht. Dieses Gefühl, hoffnungslos verloren zu sein in einer undurchsichtigen, von Angeboten überbordenden Konsumwelt. „I am lost in the supermarket“, sang er zusammen mit seinem Bandkollegen von The Clash, Joe Strummer. Das war 1979. Heute sind die Supermärkte vielleicht etwas geordneter. Die Konsumwelt dagegen kaum. Und das hat mit dem Internet zu tun, in das sich immer mehr Warenströme verlagern. Vor allem solche, die Spaß machen und nur eine kurze Lebensdauer haben. Wie Musik. Obwohl der Online-Sektor des Musikmarkts bislang nur etwa sieben Prozent vom Umsatz ausmacht, wächst dieser Konsumzweig rapide – und mit ihm das Unvermögen der Musikliebhaber, sich in der digitalen Warenwelt zurechtzufinden, deren Möglichkeiten, Musik zu erleben, unendlich sind. Erfüllt das Internet so noch seinen Zweck?

Die erste Webgeneration, die Musik und Internet überhaupt zusammenbrachte, ließ den kostbaren Stoff für jeden überall auf der Welt und zu jeder Zeit frei verfügbar durchs Netz zirkulieren. Ohne Kontrollen, ohne professionelle Vermarkter und vor allem ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. So etablierte sich ein vorkapitalistisches Netzwerk von Tauschbörsen, die den Konsumkreislauf der Tonträgerindustrie empfindlich störten. In einem zweiten Schritt setzte die Kommerzialisierung der virtuelle Musikwelt ein. Reguläre Downloadshops machten den „Musikpiraten“ Konkurrenz. Übersichtlicher wurde dadurch aber nichts. Vielmehr vertrieben nun auch Bands ihre Songs im Netz selbst. Die Folge: ein riesengroßes digitales Puzzle, das schwer zusammenzufügen und schon gar nicht zu überblicken ist. Wer nur über ein durchschnittliches Computerverständnis verfügt, fühlt sich verfangen, irrt frustriert und orientierungslos über diesen virtuellen Basar.

An dieser Stelle setzt die neueste Entwicklung an. Das System entknotet sich gewissermaßen selbst. Auf Anarchie und Kommerz folgt nun die dritte Stufe: Orientierung. Die „Hype Machine“ (hype.none- standard. net) ist ein Beispiel dafür.

In Deutschland noch weitgehend unentdeckt, wird in Amerika schon viel über diesen ominösen Trendsetter diskutiert. Eine Zukunftsmaschine? Ein digitales Orakel? Ganz so ambitioniert war Anthony Volodkin nicht, als er vor zwei Jahren mit 19 die Idee hatte, das Wissen und die Begeisterung verschiedener Internet-Musikblogs zu bündeln und zu kanalisieren. Der Sohn russischer Einwanderer wollte eine Plattform schaffen, die es jedem erleichtert, neue Musik kennenzulernen. Dasselbe Ansinnen verfolgen von jeher auch Musikzeitschriften. Nur Volodkin gehört schon einer Generation an, die sich gar nicht mehr an dieses Format erinnert. „Das muss cool gewesen sein, damals, in Zeitschriften nach neuer Musik zu suchen“, sagt der Hype-Machine-Betreiber.

Volodkin studiert Informatik in New York. Aber ein Computernerd, ein echter, bebrillter Informatikstudent, der nur angerufen wird, wenn es Probleme mit dem Laptop gibt, ist er nicht. Er ist in Musik vernarrt. Allerdings: „Auch die Radios konnten mir nichts Neues mehr liefern, also habe ich mich in Blogs umgesehen, und diese Erfahrung will ich weitergeben.“

Das System der Hype Machine ist simpel. Sie ist ein Blog-Aggregat, eine Art zentrale Sammelstelle. Das Wissen und der Inhalt von mehr als tausend Internetblogs wird gebündelt, was einem stundenlanges Surfen erspart. In kurzen Intervallen werden diese tausend Seiten auf neue MP3s durchforstet. Songs, die in den einzelnen Foren besonders häufig angeklickt wurden, erscheinen in einer Hitliste. So entsteht der Hype.

Herunterladen kann man sich diese Lieder zwar nicht, aber man kann sie sich problemlos anhören – von der Festplatte des jeweiligen Blogbetreibers. Einfach und ohne Aufwand. Außerdem kann der Nutzer Kommentare dazu lesen und nach weiteren Bands und Liedern suchen. Wer überzeugt ist, kann über Links direkt neben dem Song zu iTunes oder Amazon wechseln – und einkaufen.

Juristisch bewegt sich die Hype Machine in einer Grauzone. Es werden zwar keine illegalen Downloads angeboten und auch die Hörproben, für die der Anbieter eine Lizenz bräuchte, kommen nicht direkt von der Hype Machine, sie verlinkt nur zur Quelle. Trotzdem lebt sie davon, Songs in voller Länge zur Verfügung zu stellen. Das ist mehr als Promotion.

Einen Krieg mit der Musikindustrie will Volodkin auf jeden Fall vermeiden. Immerhin tritt er als Zwischenhändler auf. Für jede CD, die bei Amazon und iTunes erworben wird, erhält er fünf Prozent Provision. Trotzdem geht es ihm nicht nur um den eigenen kommerziellen Erfolg: „Wenn die Hype Machine Menschen dazu bewegt, mehr für CDs, MP3s und Konzerte auszugeben und so die Künstler zu unterstützen, bin ich glücklich.“

Mit rund 50 000 Nutzern pro Tag ist dieser Hit-Navigator noch ein Geheimtipp. Wohl auch deshalb hält sich die Industrie zurück. „Wenn über Musik diskutiert und kommuniziert wird, ist das immer gut für uns“, sagt Thorsten Klages, Direktor für Neue Medien bei Universal Music Deutschland. Blogs werden genau beobachtet, um Illegales, aber auch Neues zu entdecken. Auch iTunes tut das. „Für uns sind das gleichberechtigte und wichtige Medien“, sagt Georg Albrecht, Sprecher von Apple Deutschland.

Doch nicht nur Hype Machine setzt virtuelle Leitplanken in der digitalen Musiklandschaft. Webradios wenden sich an dieselbe Klientel. Auch hier steht das Prinzip der Orientierung, der individuellen und automatischen Selektion im Vordergrund. Online-Sender wie Pandora oder Last.fm haben auch in Deutschland Erfolg. Letzterer hat weltweit mittlerweile 15 Millionen Hörer. Die meisten davon in den USA und England. An dritter Stelle steht aber schon Deutschland. „Viele fühlten sich von dem riesigen Angebot im Netz abgeschreckt und überfordert, dagegen wollen wir angehen“, sagt Martin Stiksel. Der Österreicher ist zusammen mit einem Deutschen und einem Engländer Gründer des in London beheimateten Kanals. Eine spezielle „intelligente“ Software scannt die Musik auf dem Rechner des Nutzers und erstellt so ein individuelles Musikprofil. Das Radio liefert dann die passende Musik dazu. Allerdings nicht nur Titel, die der Nutzer schon kennt, sondern auch neue Stücke, die zu den Hörgewohnheiten passen. Wer also The Clash hört, bekommt auch Babyshambles geliefert. Jeder Musikfan empfiehlt somit seine Platten weiter – vollautomatisch. „Basisdemokratische Plattform“ nennt Stiksel das. Auch die Labels spielen mit. „Wir promoten Musik, und wer sie kaufen will, gelangt über Links direkt zu Downloadanbietern oder CD-Läden. Beschwert hat sich noch keiner“, so der Last.fm-Gründer. Der Sendername ist bewusst gewählt: Sie wollen die „letzte Plattform sein, die man noch braucht, um Musik zu genießen“.

So ergreift die Entmaterialisierung des Tonträgermarktes sukzessive auch Medien wie Radios, Magazine und Zeitungen. Denn das Internet wird nun auch für Menschen interessant, die sich bisher vom immensen Angebot der virtuellen Musikwelt haben abschrecken lassen. Die neue Einfachheit macht das Netz fast zum Tante-Emma-Laden, in dem sich auch Mick Jones zurechtfinden dürfte.

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