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Kultur: Der höchste Punkt

Orgie, Askese: Mette Ingvartsen und Tero Saarinen beim Berliner Festival Tanz im August

Von Sandra Luzina

Ist das eine Orgie auf der Bühne? In Mette Ingvartsens „To come“ formieren die fünf Tänzer sich zu einer gut geschmierten Sexmaschine. Wir sind umstellt von Bildern sexualisierter Körper und simulierter Lust. Ingvartsen, Absolventin der Brüsseler P.A.R.T.S.-Schule, treibt im HAU 2 ein hinterhältiges Spiel mit der Wahrnehmung. Das erste Bild ähnelt einem pornografischen Tableau. Doch die Akteure sind verhüllt und vermummt, die blauen Ganzkörpertrikots sind alles andere als sexy – sie dienen als Verweis auf die Bluescreen-Technik im Kino, wo Figuren aus der Realität ausgeschnitten und vor jeden beliebigen Hintergrund gesetzt werden können.

Das Individuum ist neutralisiert. Vorgeführt werden nicht etwa Personen, die sexuelle Handlungen vorführen. Was „To come“ ausstellt, ist die pure Aktivität der Körper, die sich vereinigen und trennen. Der kombinatorischen Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt – jedes Körperteil kann sich mit jedem verbinden. Das sieht manchmal so aus, als ob Legosteine zusammengesteckt würden. Wie eine abstrakte Skulptur, die immer neu modelliert wird. Das Verblüffende: Sexuelle Hierarchien, soziale Ordnungen und kulturelle Muster sind durchgestrichen. Diese Sexmaschine lässt alle Deutungen wie hetero- oder homosexuell, sadistisch oder masochistisch an sich abgleiten.

Und die Orgie? Die findet dann im Kopf statt. Dieses beständige Neukonfigurieren der Körper – man kann darin Blaupausen der Lust sehen. Mette Ingvartsen ist nicht so einfältig, einfach nur die Fantasien der Zuschauer zu bedienen. In „To come“ wird der Zuschauer auf seine eigenen Szenarien gestoßen. Dass der Abend neben verhaltener Erregung auch heftiges Gelächter provoziert, ist durchaus beabsichtigt.

Was „To come“ vorführt, ist eine Art konzeptuelles Strippen. Zuerst sieht man die pure Bewegung ohne Sound. Begehren, keine Klimax. Im zweiten Teil stehen die Tänzer, nun in Straßenkleidung, am Bühnenrand, sie stöpseln die Kopfhörer ein und beginnen zu seufzen, stöhnen und schreien. Das Orgasmus-Faken ist strikt durchkomponiert: In immer neuen Wellen entsteht ein Soundtrack der Lust, Frauen und Männer hecheln sich immer schön asynchron zum Höhepunkt. Zu Swing-Musik werfen die Tänzer sich dann in wilde Paarfiguren. Lust am Tanz – Tanz als Choreografie von Sexualität. Auch wenn das Finale vielleicht ein wenig brav wirkt: Mit „To come“ hat auch der „Tanz im August“ seinen ersten Höhepunkt erreicht. Der jungen Dänin gelingt ein ebenso kluges Experiment mit der Lust.

Nach der kalten Orgie dann die hitzige Askese. Der finnische Choreograf Tero Saarinen hat sich von den Tänzen und Gesängen der Shaker zu seinem Stück „Borrowed Light“ anregen lassen, das im Haus der Berliner Festspiele zu sehen war. Die amerikanische Sekte ist bekannt für ihre strenge Arbeitsethik und ihre rituellen Schütteltänze. Tanz wird von den Shakern als Gottesdienst praktiziert. Joel Cohen hat die Lieder der Shaker mit der Boston Camerata einstudiert; die einfachen Gesänge entfalten oft eine betörende Schönheit.

Auf simplem Muster basiert auch die Choreografie, die roh ist und zugleich kunstvoll gezimmert. „Borrowed Light“ zeigt schwere Körper. Kantig und wuchtig sind die Bewegungen, bis die drei Frauen und vier Männer sich drehen und kreiseln und die schwarzen Gewänder zu schwingen beginnen. Erleuchtung ist machbar, doch es ist harte Arbeit, den Körper zu überwinden und sich in eine spirituelle Ekstase zu katapultieren. Saarinen interessiert die Verbindung aus Sinnlichkeit und Askese, doch er wirft sich gleichzeitig zum Sektenbeauftragten auf und liefert die Kritik an der zölibatären Gemeinschaft gleich mit.

Wie der Einzelne ans Gängelband genommen, wie die Sinnlichkeit in Fesseln gelegt wird, dafür findet er starke Bilder. Doch es bleibt ein ambivalenter Abend, merkwürdig rückwärtsgewandt.

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