zum Hauptinhalt

Kultur: Der innere Klang der Bilder

Normalerweise begleiten Kataloge Ausstellungen.Manchmal scheint aber auch das Buch wichtiger zu sein als die Präsentation der Originale.

Normalerweise begleiten Kataloge Ausstellungen.Manchmal scheint aber auch das Buch wichtiger zu sein als die Präsentation der Originale.Das trifft auch auf die Ausstellung von 123 Werken Wassily Kandinskys mit dem Titel "Die Welt klingt" in der Tübinger Kunsthalle zu.Die Vorgeschichte der Schau untermauert diese Vermutung.Sämtliche Stücke stammen aus dem - wie Kunsthallen-Chef Götz Adriani meint - "großartigen" Bestand des Centre Pompidou in Paris, nämlich aus dem Vermächtnis der Witwe Nina Kandinsky.Sie werden in diesem Paket nur für die Zeit der Restaurierung des wichtigsten französischen Museums für moderne Kunst ausgeliehen.

Der schön gedruckte Katalog dokumentiert einen Teilbestand aus dem Centre Pompidou und liefert eine ausführliche Biografie.Die Ausstellung der Ölbilder und Papierarbeiten aus den Jahren 1902 bis 1940 dagegen, die immerhin die erste große Kandinsky-Schau in Deutschland ist, bleibt ziemlich blaß.Das mag daran liegen, daß auf die grandiosen farbsprühenden Bilder der Geniezeit um 1911 weitgehend verzichtet wurde.Die sind hauptsächlich im Münchner Lenbachhaus zu finden, wohin die Malerin Gabriele Münter, einst Lebensgefährtin des Künstlers, ihren Kandinsky-Besitz gab.In Tübingen ist die wichtigste Phase des Wegbereiters der Abstraktion fast nur mit - selten schönen - Papierarbeiten belegt, unter anderem mit einem wunderbaren Aquarell, dem Deckelentwurf für den Almanach "Der Blaue Reiter", aber auch mit einem der ersten gegenstandslosen Blätter aus dem Jahre 1910.In diesem Buch und in der im nachhinein organisierten Ausstellung in der Münchner Galerie Thannhauser sind unter anderem Werke von Kandinsky, Franz Marc, Gabriele Münter, Arnold Schönberg, August Macke und Robert Delaunay vereint.

Der "Blaue Reiter" gilt als Markstein in der Geschichte der modernen Malerei.Beinahe parallel zu dieser Manifestation einer neuen Farbmalerei hatte der 1866 in Moskau geborene Wahlmünchner Kandinsky seine programmatische Schrift "Über das Geistige in der Kunst" veröffentlicht.Mit ihr erklärte er die Anfänge der expressionistischen Abstraktion, die durch Auflösung gegenständlicher Bezüge entsteht.Seine in der Theosophie wurzelnde Vorstellung von Malerei entsprang dem Impuls einer "inneren Notwendigkeit".Er wollte "das große Geistige", den "inneren Klang" seiner Gedanken in Bilderfindungen sichtbar machen.Das große Ziel - wie beispielsweise in seinem Bühnenstück "Der gelbe Klang" - war eine Synthese der Künste, von Theater, Musik und Malerei.

In Tübingen dagegen begegnet einem vor allem der Kandinsky der systematisierten, geometrisierten Abstraktion aus den Jahren 1922 bis 1933 und der Pariser Spätzeit bis zu seinem Tode 1944.Der Künstler war 1922 ans Bauhaus in Weimar berufen worden, und dort setzte sich fort, was im revolutionären Rußland und in München begonnen hatte.Kandinsky trat mit den berühmten Kollegen seiner Zeit in Kontakt, schuf raumschiffhaft im Weiß der Bildfläche schwebende Formkonstellationen von bizarrer Erzählfreudigkeit.Mit dem langjährigen Bauhaus-Lehrer Paul Klee, der wie er sehr musikalisch war, verband ihn eine besondere Freundschaft.Das belegen die sieben Klee-Werke im Nachlaß des Künstlers, die auch in Tübingen zu sehen sind, sowie die eigenen Tafeln um 1930, die deutlich auf Klees Einfluß verweisen.

Kandinsky experimentierte im Dialog mit seinen Zeitgenossen.So erzeugte er in "Zwei grüne Punkte" aus dem Jahre 1935 unter dem Einfluß von André Masson und Pablo Picasso durch das Aufstreuen von Sand auf die Leinwand eine haptische Oberfläche.Solche wichtigen Fußnoten zum Werk des Malers rücken in Tübingen ins Zentrum der Ausstellung.Das ist auch ihr Dilemma.Zu sehen ist ein Nachlaß und keine Retrospektive.Dazu hätten die besten Arbeiten aus unterschiedlichen Museen versammelt werden müssen.Der Weg zur Abstraktion - bei Kandinsky nach mehr als 80 Jahren Rezeptionsgeschichte ohnehin banal - dient als labiles Gerüst der Konzeption.Sich anhand des Nachlasses aufdrängende Fragen, wie zum Beispiel Kandinskys dialogisches Arbeiten mit dem Werk anderer Künstler, werden nicht mit Beispielen seiner Kollegen belegt, sondern allein in der akribisch zusammengestellten Biografie des Katalogs mitgeteilt.Solche Probleme herauszuarbeiten, wäre die Aufgabe einer ersten großen Kandinsky-Ausstellung in Deutschland gewesen.

Kunsthalle Tübingen, bis 27.Juni; Katalog (DuMont Verlag, Köln) 39,90 Mark.

CARMELA THIELE

Zur Startseite