zum Hauptinhalt

Kultur: Der ironische Meisterdenker

Man brachte ihm weltweit Achtung entgegen: Die Ehrendoktorwürden an Universitäten auf allen Kontinenten und die ihm zuerkannten Preise wurden von Jahr zu Jahr mehr.Der Soziologe und Philosoph Niklas Luhmannkonnte sie zuletzt nicht mehr annehmen, es war ihm zuviel geworden.

Man brachte ihm weltweit Achtung entgegen: Die Ehrendoktorwürden an Universitäten auf allen Kontinenten und die ihm zuerkannten Preise wurden von Jahr zu Jahr mehr.Der Soziologe und Philosoph Niklas Luhmannkonnte sie zuletzt nicht mehr annehmen, es war ihm zuviel geworden.Dennoch blieb er bis zuletzt nicht unumstritten.Aber lehnten nicht nur diejenigen ihn mit infamen Beschimpfungen ab, die sich das Lesen seiner Schriften ersparten, die ihren intellektuellen Horizont nicht weit genug ausspannten, um sie zu verstehen? Diejenigen, die über den Verdacht des intellektuellen Tiefflugs erhaben sind, anerkannten trotz kritischer Distanz seine Leistung.Jürgen Habermas und Otfried Höffe beispielsweise nannten ihn einen "scharfsinnigen Gesellschaftstheoretiker" und "brillanten Soziologen".

Begonnen hatte alles ganz provinziell.In Lüneburg am 8.Dezember 1927 geboren und als Luftwaffenhelfer im letzten Kriegsjahr seine Heimat verteidigend, kehrte er nach dem Jurastudium an das Lüneburger Oberlandesgericht zurück.Eine Abordnung von dort ins Hannoversche Kultusministerium sorgte dafür, daß er bis 1961 seiner niedersächsischen Heimat treu bleiben konnte.Was trieb ihn dann zur Zusammenarbeit mit dem berühmten Soziologen Talcott Parsons nach Harvard? In Gesprächen antwortete er: "Als Jurist ist man mit Problemen konfrontiert und muß sie lösen.Auf die Dauer wird das langweilig, weil sich alles wiederholt.Eines Tages fragt man sich, ob es denn noch etwas anderes gibt als Probleme.Sieht man dann einmal über den Rand seines Juristenhorizonts hinaus, entdeckt man, daß die Gesellschaft insgesamt doch ganz ordentlich funktioniert.Dann fragt man sich, wie trotz aller Probleme gesellschaftliche Ordnung möglich ist und sich immer wieder herstellt." Dies fortan Luhmanns leitende Frage.

Von Helmut Schelsky entdeckt und an die neugegründete Bielefelder Reformuniversität geholt, stellte er im Jahre 1967 sein Projekt vor: Die Entwicklung einer Theorie der Gesellschaft.Die Laufzeit des Projekts bezifferte er auf 30 Jahre.Die Zeit wurde exakt eingehalten.Pünktlich lieferte er 1997 das Schlußkapitel seiner Gesellschaftstheorie ab.Es heißt "Die Gesellschaft der Gesellschaft" und umfaßt 1200 Seiten.Kosten für das Projekt entstünden nicht, denn er mache alles alleine."Ich hatte immer zu wenig Schreibkräfte", sagte er einmal."Es gibt von mir aus den siebziger Jahren eine Menge nie abgeschriebener und damit nie publizierter Manuskripte." Doch das, was publiziert wurde, umfaßt allein mehr als 10 000 Seiten, denn das zwölfhundertseitige Schlußkapitel seiner Gesellschaftstheorie ist ja nur ein Teil.Die Einleitung mit dem Titel "Soziale Systeme", 1984 publiziert, hat 675 Seiten; das Kapitel "Die Wissenschaft der Gesellschaft" (1990) 732 Seiten; die Wirtschaft (1988), das Recht (1993) und die Kunst (1995) wurden jeweils auf bescheidenen 350 bis 600 Seiten abgehandelt.

Die Gesellschaftstheorie ist nicht das einzige aus Luhmanns Feder.Es gibt fast 400 Aufsätze und mehr als 50 Buchpublikationen zur Politik, zur Organisationstheorie und zur Wissenssoziologie.Doch das Zentrum seiner uns verfügbaren Systemtheorie bildet die Gesellschaftstheorie.In ihr distanziert er sich von der - wie er so gern sagte - "alteuropäischen Gesellschaftsauffassung", nach der die Politik eine gänzliche Umwälzung der Gesellschaft auf der Basis eines wertunterfütterten Programms, das Aufklärung oder Sozialismus heißen konnte, bewirkt.

In der heutigen Gesellschaft sah Luhmann viele gleichgeordnet nebeneinander bestehende, eigensinnige Subsysteme, wie Wirtschaftssystem, Gesundheitssystem, politisches System, Bildungssystem, Bewußtseinssystem und viele mehr.Alle grenzten sich selbsterhaltend von ihrer Umwelt und von den anderen Systemen ab und wahrten so ihre Identität und Eigenständigkeit.Da auch Politik ein Teilsystem der Gesellschaft ist, müßten politische Entscheidungen an andere Teilsysteme der Gesellschaft, die für das politische System Umwelt sind, Anschluß finden.Daß das nicht immer klappt, konnte man nach der deutschen Vereinigung sehen.Die von der Bundesregierung bereitgestellten Investitionsanreize, in Form von Geld (Subventionen, Steuererleichterungen), wurden von westlichen Unternehmern nicht - wie vorgesehen - für Sanierungen östlicher Betriebe verwendet, sondern für den Abriß der Anlagen möglicher Konkurrenten, um weiterhin ungestört den Markt beherrschen zu können.Hier bewies die Wirtschaft ihren Eigensinn gegenüber politischen Intentionen.

Luhmann wurde oft allzu nüchterner Realismus vorgeworfen.Ihm fehlten, hieß es, die Träume von einer besseren zukünftigen Gesellschaft.Er konterte, daß man sich mit realistischem Blick viele Enttäuschungen ersparen könne.Er verstand seine Theorie als eine Theorie der Enttäuschungsreduzierung: man dürfe sich den soziologischen Blick nicht von hehren Idealen vernebeln lassen.Ja, aber dann müsse er dennoch sagen können - so hielt man ihm entgegen -, wie es weitergeht.

Das konnte er: Wenn Systeme, seien es gesellschaftliche Teilsysteme, wie die Wirtschaft oder eine konkrete Grundschule, nicht mehr funktionierten, dann folgten auf die daraus entstehenden Probleme Strukturänderungen.Sie führten entweder zum Erhalt des Systems oder zu neuen Problemen.Die soziale Evolution entscheide! Probleme entstünden auch immer dann, wenn die Systeme ausschließlich ihrem autopoietischen, egoistischen Eigensinn nachgehen.Um solche gesamtgesellschaftlichen Probleme zu vermeiden, müßten Systemkopplungen erfolgen.Und wie können funktionierende gesellschaftliche Subsysteme sich so miteinander koppeln, daß die Gesellschaft insgesamt funktioniert? Entweder die Kopplung klappt oder sie klappt nicht, sagte Luhmann lakonisch.Das müsse man abwarten.Luhmann setzte stets auf die Selbsterhaltungskräfte der Evolution.

Die Chancen, Problemlösung durch einen bewußten Eingriff zu erreichen, schätzte Luhmann gering ein: "Man erreicht dabei zwar immer irgend etwas, aber meist etwas anderes als man gewollt hat." Ein Beispiel: Anfang der sechziger Jahre erließ die Bundesregierung, um der steigenden Wasserverschmutzung Einhalt zu gebieten, ein Gesetz, das den Waschmittelherstellern vorschrieb, nur Produkte mit biologisch abbaubaren Substanzen auf den Markt zu bringen.Kurze Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes waren die Flüsse überdüngt und hatten so wenig Sauerstoff, daß das Leben in ihnen erstarb.Die biologisch abbaubaren Substanzen waren zur Nahrung für die alles Leben überwuchernden Algen geworden.Das hatte man nicht gewollt!

Beispiele solcher Art wurden Luhmann als Zynismus ausgelegt.Das halte ich für gänzlich verfehlt.Luhmann war Ironiker.Das klang in Vorträgen unterhaltsam.Doch weit entfernt von der Absicht, rhetorische Tricks anzuwenden, wollte Luhmann unbegründete Hoffnungen und Utopien ad absurdum führen.Ironie heißt Entlarven dessen, der behauptet, die Wahrheit gefunden zu haben.Der Ironiker sagt: "Das, was du sagst, kann nicht richtig sein.Ich zeige es dir durch meine ironische Bemerkung.Doch, wie es tatsächlich ist, weiß auch ich nicht."

Diese Unsicherheit wird im Wissenschaftsbetrieb mit Zitaten behoben; man beruft sich dabei auf eine höhere Autorität: "Schon Kant sagte ...", lesen wir manchmal.Auch diese Verfahrensweise ironisiert Luhmann.

In Oerlinghausen bei Bielefeld, wo Luhmann die letzten fast dreißig Jahre seines Lebens wohnte, liegen noch Tausende unbearbeiteter Manuskriptseiten.Wichtig wäre es ihm gewesen, noch mindestens zwei Kapitel seiner Gesellschaftstheorie gründlich durchzuarbeiten.Dazu kam es nicht mehr.

DETLEF HORSTER

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false