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Kultur: Der jämmerliche Diktator

Kommödie und Farce galten lange als einzige Möglichkeit, Hitler im Kino darzustellen. Der Film „Der Untergang“ zeigt ihn als Menschen. Darf man das?

Das erste und einzige Mal, dass ich Adolf Hitler sah – da war er noch „der Führer“ und hatte gerade Österreich und das Sudetenland ohne einen Schuss „heim ins Reich“ geholt – war in Wien im Herbst 1938. Ich war noch keine fünf, meine Mutter hatte mich mit zur Ringstraße genommen, wo er sich auf dem Balkon des Hotels „Imperial“ zeigen würde.

Hitler, nein, nicht Hitler, der Führer erschien dann auch auf dem Balkon. Unten hatte sich eine Menschentraube versammelt, die ihm mit „Heil“-Rufen zujubelte. Ich war unter den vielen, aber nicht allzu vielen, meine Mutter nahm mich auf den Arm, streckte mich in die Höhe. Und anschließend soll ich zu ihr gesagt haben: „Er hat so wunderschöne blaue Augen.“ Er. Der Führer.

Manchmal, wenn ich nach Wien komme, kehre ich an die Stelle der blauen Erleuchtung zurück. Ich blicke hoch zum Balkon. Und dann denke ich immer wieder, wenn ich den Abstand zur majestätischen Balkonbalustrade mit meinen Blicken abtaste: Niemals hätte ich die schönen blauen Augen erkennen können, auf diese Distanz! Meine erste Begegnung war also ein typischer Fall von Idolatrie. Das wird auch daraus klar, dass die blauen Augen im Laufe der Jahre, nachdem sich Hitler vom Befreier zum Zerstörer, vom Sieger zum Besiegten wandelte, immer blasser wurden. Nach Kriegsende waren sie weg. „Aber geh!“, sagte meine Mutter. „Was du dir einredest! Ich hab dir nie gesagt, dass du das gesagt hast.“

Der Hitler jener Zeit war ein Hitler, der durch die Sphäre jubelnder Menschen fuhr, die Rechte halb grüßend, halb segnend erhoben. Er war ein Popstar, hätte es das schon gegeben. Sein großer Hit lautete „Deutschland, Deutschland über alles!“

Im Lauf des Krieges ist dieser Hitler von der Bildfläche der Öffentlichkeit verschwunden. Je schrecklicher es seinem Volk ging, umso mehr fühlte es sich von ihm allein gelassen. Er hatte sich in seinen Führerhauptquartieren, in seinem Führerbunker verkrochen, verschanzt, eingeigelt. Nicht mal über den Volksempfänger sprach er zu seinem Volk. Die Rede zu seinem Geburtstag am 20. April 1945, da war er gerade 56, ließ er verlesen: „Wien wird deutsch, Berlin bleibt deutsch, und Europa wird nie bolschewistisch.“ Da hatte die Rote Armee Wien genommen, sie stand vor Berlin und uns – meine hochschwangere Mutter, ich und meine drei kleinen Geschwister waren auf der Flucht nach Westen – hat der Trost der verlesenen Hitler-Worte nicht mehr überzeugt.

Das letzte Mal, dass ich Hitler sah, in der Agonie seiner Herrschaft, wenn auch nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern nur in der Wochenschau, war in jener berühmt berüchtigten Bilderfolge, als er, zum letzten Mal im Freien, im Hof der neuen Reichskanzlei Hitler-Jungen, also, 14-, 15-Jährigen die Wange tätschelte, weil sie sich mit Panzerfäusten den T-34-Tanks der Roten Armee entgegengestellt hatten – letztes Kanonenfutter, um seinem schäbigen Leben und seinem zerschundenen Reich, das auf den Führerbunker geschrumpft war, noch ein paar Tage Aufschub zu erwirken.

Auch das waren Propagandabilder, eher welche, die der Wahrheit verteufelt nahe kamen. Ein verfallener, in seinen staubigen Militärmantel gewickelter, gebeugter Mann, der seine zittrige Parkinson-Linke hinter dem Rücken versteckt, ein Bild des Jammers, auf dem sich Hitler zu stramm stehenden Hitler-Jungen, deren Augen immer noch leuchten, mit melancholisch wässrigem Blick und einem Grinsen, einem fast starrem Lächeln herabbeugt.

Wie gesagt, ein verteufeltes Bild, eine verteufelte Szene. Denn einerseits weiß der Betrachter inzwischen längst durch unzählige Doku-Serien von Leisers „Mein Kampf“ über Fests „Hitler – eine Karriere“ zu Knopps Endlosschleifen über das Dritte Reich und den Krieg, dass der Führer auch diese Jungen skrupellos in den Tod zu jagen bereit war, um sie Millionen hingeschlachteter Opfer hinterher zu schicken.

Andererseits kann sich niemand der verzweifelten Kraft dieser Wochenschau entziehen, die den „Fall“, die den „Sturz“ zeigt eines „Aufstieg und Fall“-Dramas, wie es die Weltgeschichte in diesen Ausmaßen bisher noch nie inszeniert hatte.

Es ist ein Sturz, ein Fall ins Bodenlose, eine Szene am Eingang zur Hölle. Und ich merke schon, indem ich das schreibe, wie sehr ich der „Literarisierung“, der „Filmisierung“ der Ereignisse aufsitze, die in Wirklichkeit doch blankes Chaos, nacktes Entsetzen, pures Inferno waren.

Diese Szene, die ich gewissermaßen noch als Augenzeuge erlebt habe, nachträglich heilfroh, dass ich mit elf selbst für diesen Menschenfresser zu jung war, um für den Panzerfaust-Tod getätschelt und in die Wange gekniffen zu werden. Diese Szene aus dem März 1945 haben sich Bruno Ganz und Bernd Eichinger offenbar, auch weil sie authentisch festgehalten ist, für den Film „Der Untergang“ so zum Vor-Bild genommen, dass sie die Charakterdarstellung Hitlers in seinen letzten Tagen prägen, vorzeichnen, bestimmt:

Der Führer ist ein Teufel, aber er ist ein armer Teufel. Er, den die Deutschen erst vergöttert haben, um ihn dann als größten Schlächter aller Zeiten, als Bestie vorgeführt zu bekommen, ist hier schlurfend, mit müden Grimassen und einer Lemuren-Heiterkeit wieder zum Menschen geworden – eine Kreatur kurz vor dem Ende, die nichtsdestotrotz noch andere rechthaberisch, rücksichtslos, egoistisch mit sich in den Tod reißt.

Hitler ein Mensch? Wer am Ende Dreck frisst, ist immer ein Mensch, je erbärmlicher umso mehr auch Erbarmen weckend. Wüssten wir es nicht aus anderen Quellen und Erkenntnissen, wir könnten es in Shakespeares großen Tragödien, in seinen großen „Historys“ erfahren und lernen. Was für ein Untier Richard III. durch seine Untaten, seine heimtückischen Kindermorde, seine blutrünstigen Strategien auch ist – im Moment seines Sturzes, seines Untergangs wird diese Bestie wieder zum Menschen – und damit zum Gegenstand unserer Anteilnahme. Oder „Macbeth“, ein Hitler-Vorläufer (des Theaters) par excellence, einer der durch Blut watet, bis ihn die Einsicht erfasst, er sei so tief ins Blut gestiegen, dass Weitergehen wie Umkehr gleich unmöglich sind.

Der Hitler des Führerbunkers unter der Reichskanzlei, der Hitler der letzten Tage weiß, dass es keine Umkehr mehr gibt. Sein Untergang ist unvermeidlich. Und, von Wutausbrüchen abgesehen, trägt er ihn mit stoischer Betäubtheit. Eine der letzten wichtigen Botschaften, die ihn erreicht haben, sind die Nachrichten vom Ende Mussolinis. Den hat man mit seiner Geliebten, erschossen und die Leichen einer wütenden Menge zu einer Orgie der Erleichterung freigegeben. Hitler fürchtet, als gefangenes Raubtier in einem Käfig im Kreml vorgeführt zu werden. Vielleicht hat er zu viel vom Kampf-um-Rom-Autor Felix Dahn gelesen. Jedenfalls ist ihm nichts wichtiger, als dass seine Leiche nicht dem Feind in die Hände fällt.

All das sind menschliche Regungen. Menschliche Regungen eines Monsters. Und jeder, der sich mit Hitler beschäftigt hat, weiß, zu welch bestialischer Raserei er gegenüber seinen Gegnern fähig war. Der Freiwillige aus dem Ersten Weltkrieg, ein mutiger Meldegänger, hat nicht nur im Röhm-Putsch von 1934 selbst seine Kumpane eiskalt ermordet und ermorden lassen. Nach dem 20. Juli ließ er sich auf der Wolfsschanze die barbarischen Hinrichtungen der Offiziere und Generäle vorführen, offensichtlich war er süchtig nach Rache und Grausamkeit.

Anders als Himmler, der in Ohnmacht fiel, nachdem er sich Judenmorde angeschaut hatte und anschließend etwas davon faselte, dass man dabei „anständig“ bleiben müsse, hat Hitler vor dem von ihm angezettelten Genozid die Augen verschlossen, ebenso wie vor den Trümmern der eingeäscherten deutschen Städte.

Vor Warschau sehe ich ihn hinter dem Scherenfernrohr, wie er geradezu aufgekratzt die Zertrümmerung der polnischen Hauptstadt erlebt, ja genießt.

Dürfen wir jemanden, der den Tod von über 40 Millionen Menschen verschuldet hat, als Menschen darstellen, der kurz vor dem Tod noch seine Hochzeit feiert, um seine Freundin „anständig“ zu machen? Der seinen Sekretärinnen ein liebenswürdiger Chef ist, von charmanter Fürsorglichkeit? Der noch als gebrochene Kreatur allein durch Blicke, Gesten, Worte seine Umgebung in die Starre eines blinden Kadaver-Gehorsams versetzt? Der Vegetarier, der Menschenfresser ist, der sich mit der Sorgfalt des jugendlichen Asylsuchenden und Stadtstreichers altersgefräßig und bedächtig über den Teller Spaghetti beugt, ihn blank putzt, um dann zu sagen, dass das Essen „ausgezeichnet“ gewesen sei, als Kompliment für die Köchin? Zwei Szenen fallen mir dazu ein, die eine grausig genug, die andere voll Waldschrat-Komik. In der einen ist festgehalten, wie der rumänische Ex-Diktator und größenwahnsinnige Menschenschinder Nicolae Ceausescu und seine Frau von Revoltierenden gefangen und alsgleich standrechtlich erschossen werden. Er (auch zeitweilig ein Idol und Vorbild der Koexistenz für begeisterte Linke – schon vergessen?) steht da, mit irrem Blick, in die Enge getrieben, ein gehetztes Tier, das keine Ausflucht mehr hat. Und einen Augenblick lang, mitten in der Sekunde der „gerechten Strafe“ (falls es so etwas gibt) überkommt den Betrachter Mitleid, Erbarmen. Auch mit seiner Frau, die sich so grässlich plusterte und auf einmal so jämmerlich dem Tode überantwortet wird.

Und Saddam Hussein, wie er verfilzt und verwildert, eher ein aufgestörter, aufgestöberter Penner als ein Diktator und Massenschlächter, aus seinem Erdloch kriecht, gefilzt wird, selbst der Mund wird ihm durchleuchtet.

Am Schluss, so „lehren“ uns diese Bilder, ist auch der schrecklichste Tyrann, die furchtbarste Geißel der Menschheit ein Haufen Elend. Ist das legitim? Das ist legitim. Und ein Ansporn für den Zuschauer, es Hitler, seinen jämmerlichen Generälen, seinen fanatisierten Hitler-Jungen gleich zu tun, ist es ganz gewiss nicht.

„Wir können Shakespeare ändern, wenn wir Shakespeare ändern können“, hatte Brecht aus Anlass seiner „Coreolan“-Bearbeitung deklariert. Wie änderte er den Führer nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938? In eine Kasperle-Figur, der jeder Schauspieler auf der Bühne ein volles Maß an Leben einflößen konnte und kann (Martin Wuttke) – bis heute. Seinen „Hitler“ schuf er als „Arturo Ui“, im Stück des Grand Guignol und des Mackie Messer, sein Hitler ist ein Schmierenkomödiant in einer Mafia-Parabel, in der es um „Karfiol“ geht – oder um Kohl, um Kraut, um Wirtschaft.

Das ist und bleibt komisch, eine Paraderolle für Artisten des Wortes und der Mimik. Wollte Brecht das Elend darstellen, das Hitler über die Deutschen gebracht hatte, griff er nach realistischen Einzelszenen. Sie heißen „Furcht und Elend des Dritten Reichs“. Hitler kommt darin nicht vor. Nur sein übergroßer Schatten.

Am 22. Juni 1940 lässt Hitler im Wald von Compiègne die besiegten Franzosen den Waffenstillstand unterschreiben. Nach dieser demütigenden Prozedur, die für Hitler „die Schmach von Versailles“ tilgen sollte, führt er – die Wochenschau hat es registriert, und ich als Kind habe es abgespeichert – einen übermütig grotesken Solo-Tanz im Wald vor. Chaplin hat sich, als er den „Großen Diktator“ drehte, die Szene immer wieder vorführen lassen, im Vorlauf und im Rücklauf. Dabei hat er bewundernd verächtliche Ausrufe ausgestoßen, wie er den Schmierenkollegen von Schauspieler – gemeint war Hitler – durchschaue.

Chaplins überlieferte Kommentare wirken wie eine verächtliche Bewunderung, wie eine bewundernde Verachtung. Er verstand etwas vom schauspielerischen Größenwahn Hitlers – ja, er teilte ihn, im Unterschied zum „Führer“, bloß auf der Leinwand, während Hitler seine Allmachtsfantasien mit Blut schrieb. Mit dem wirklichen Blut seiner Opfer. Aus dieser Waffenstillstandsszene hat Chaplin in seinem „Großen Diktator“ eine der grandiosesten Szenen über Hitler herbeifantasiert. Hitlers Tanz mit dem Globus, den er so lange jongliert, umtanzt, als Liebesobjekt überwältigt – bis die Weltkugel als Luftballon platzt. Die Welt ist auf einmal ein verschrumpeltes Präservativ.

Diese Szene, obwohl eine geniale Traumszene, hat mehr mit Bruno Ganz im „Untergang“ zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Denn auch er steht manchmal, ein zitternder, kläglicher Mann, da, als sei seine Welt ein geplatztes Präservativ. Man muss sich nur den rührenden, widerlichen, kläglichen Kuss ansehen, mit dem Hitler erstmals – es wirkt obszön hilflos – Eva Braun vor den Augen anderer küsst.

Man hat festgestellt, Hitlers Wahn ließe sich nur auf Grand Guignol-Niveau darstellen – übrigens hat auch Shakespeare seine bucklige Bestie, Richard III., aus einer Art englischer Grand-Guignol-Figur entwickelt. Mel Brooks hat das getan in „The Producers“. Vor allem aber Lubitsch in „Sein oder Nichtsein“, der hinreißendsten und skrupellosesten Farce über Hitler – gültig bis heute und ohne Verfallsdatum.

Lubitsch und Chaplin machten ihre Hitler-Filme, als jener auf der Höhe seiner Macht stand. Ihre Waffe gegen Hitler war die Kraft der Komik – sie wollten Hitler als den unmenschlichen Popanz zeigen, als der er sich herausstellen sollte. Indem sie ihn lächerlich machten, hofften sie auf seinen Untergang. Im Unterschied zum englischen und amerikanischen Publikum (dem die Filme im Krieg auch Mut und Hoffnung einflößen sollten) haben wir Deutschen die Filme erst gesehen, nachdem Hitler untergegangen war. Sozusagen mit historischem Abstand.

Der „Untergang“ spielt in der Zeit, als Hitler zuletzt nur noch eine fatale „Hoffnung“ hatte: Deutschland mit sich in die Hölle zu reißen. Bruno Ganz spielt ihn dennoch als Menschen. Vielleicht, weil es dazu inzwischen genügend historischen Abstand gibt? Die meisten Opfer und die Henker und Mörder sind tot. Hitler machte seine Gegner zu Unmenschen, um sie vernichten zu können. Bruno Ganz zeigt, dass auch das Unmenschlichste von einem Menschen ausging. Eine Verharmlosung ist das nicht.

Hellmuth Karasek

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