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Kultur: Der junge Mann und das Meer

Kent Nagano dirigiert Brittens Seefahrer-Drama „Billy Budd“ und gibt sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper

Als Winston Churchill für die britische Kriegsmarine zuständig wurde, soll er in einer Rede vor dem House of Commons geknurrt haben: „Unsere Marine floriert seit Hunderten von Jahren auf Grund von drei Dingen: Rum, Peitsche und Sodomie.“ Daran ist mehrerlei bemerkenswert. Zum einen sagt es etwas über Politikersprache und deren Deutlichkeit, zum anderen ist das House of Commons keineswegs kollektiv in Ohnmacht gefallen. Und zum dritten benennt diese Äußerung in ihrem Sarkasmus eine Stimmung, wie gewiss auch Nicht-Briten sie unweigerlich mit Romanen und Filmen wie „Moby Dick“ oder der „Meuterei auf der Bounty“ assoziieren: stolze Dreimaster in peitschender Gischt, Harpunen, die zuckendes Menschenfleisch durchbohren, rasselnde Säbel, klingelnde Ohrringe, Breitseiten aller Arten – und über allem das Bild einer trotzenden-strotzenden Männlichkeit, das das Salz der Weltmeere wohl bis in alle Ewigkeit auf unsere Netzhäute gebrannt hat.

Mit solcher Piratenseligkeit wollte die Bayerische Staatsoper naturgemäß nichts zu tun haben, als sie Kent Nagano und Peter Mussbach nun mit der Münchner Erstaufführung von Benjamin Brittens Seefahrer-Oper „Billy Budd“ betraute. Das ist richtig und bedauerlich zugleich. Richtig, weil Brittens Musik – und was wäre nach Opern wie „Peter Grimes“ (1945) oder „The Rape of Lucretia“ (1947) je anderes zu erwarten gewesen – in all ihrer Verträglichkeit für das zeitgenössische Ohr, ihrer ebenso überzeugten wie überzeugenden ästhetischen Homöopathie niemals bloß illustriert.

Gewiss, es lautmalert ganz ungemein durch diese großartige Partitur: Die See etwa erglänzt in einem Reichtum und in einer Tiefe der (harmonischen) Farben, wie wirklich nur die Natur (oder eben die Kunst!) sie kennt, mal aufgewühlt und in giftigstem Blaugrüngelb, mal träge und wie in Goldbronze hingegossen, mal ganz gläsern und eiskalt. Und auch die Affekte, die die Männer in die tödliche Auseinandersetzung treiben (letztlich ist das Ganze eine Dreiecksgeschichte zwischen dem „guten“ Captain Vere, der den stotternden Matrosen Billy Budd für seine Seele und seine Schönheit liebt, und dem „bösen“ John Claggart, der ihn genau dafür hasst), sie stoßen sich mit ungeheurer, geradezu skulpturaler Plastizität im musikalischen Raum.

Dass Budd am Ende einer Intrige zum Opfer fällt, ja regelrecht geopfert und hingerichtet wird, hat eine antikische Dimension – und so wie Brittens Librettisten E.M. Forster und Eric Crozier nach Herman Melville die Seefahrt als Menschheitsmetapher begreifen, als schicksalhaftes Unerlöstsein, bietet auch der Komponist nichts weniger auf als ein klingendes Menschheitsgedächtnis. In ihrem immensen Formenreichtum aber ist diese Musik stets so klug, dass sie im Nu alles auch wieder vergessen kann – und vergisst. Britten ist nicht Eklektizist, sondern genuiner Schöpfer einer geläuterten, sentimentalischen Tonsprache. Dass diese es sich 1951 leistet (in München setzt man auf die vieraktige Originalfassung des Werks, die dramaturgisch plausibler und musikalisch härter ist als die zweiaktige Nachbearbeitung), ganz und gar tonal zu verfahren, mag damals eine Provokation gewesen sein. Heute, da unsere Ohren weit weniger ideologisch hören, macht gerade das die Suggestivität dieses Abends aus. Man will wissen, wie ein derart „heiles“, geschlossenes System mit dem Unheil in dieser Welt fertig wird.

Prompt kommt alles anders, als man denkt. Billy Budd ist zwar der reine Tor, eine Art Parsifal der Meere – und geht dennoch in seinem Element zu Grunde; Captain Vere ist zwar der „Gute“ – und wird dennoch zum Verräter. Und auch John Claggart stirbt, die Inkarnation des Bühnenbösewichts schlechthin, ein Bruder im Geiste aller Großinquisitoren, Jagos, Mephistos und Kaspars.

Diese Oper ist, notgedrungen, reine Männersache (was auf Dauer doch ermüdet). Und all die homoerotischen Allusionen, die Britten zweifellos mitkomponiert hat, das Untergründige zwischen den Noten, die Hitze so mancher Szene, es ist Kent Naganos Sache eher nicht. Vielleicht ist das auch gut so, weil sich der Abend nur so seine musikalische Klarheit und Hellsichtigkeit bewahrt, seine zwingende Modernität und Verstandeskühle. Andererseits wird man den Eindruck nicht ganz los, dass Naganos vom ersten Moment an ausgesprochen inniges Verhältnis zum Bayerischen Staatsorchester (dem er ab 2006/2007 als Generalmusikdirektor vorstehen wird) schon jetzt mehr zugelassen hätte. Mehr Expressivität, glühendere Bekenntnisse etwa in Claggarts grandiosem Credo im zweiten Akt (John Tomlinson mit irdenem Bass-Timbre und viel Wotan-Erfahrung), mehr virilen Eros, eine größere Zärtlichkeit der Eingeweide in Veres traumschönem, purcellhaft hingetupftem Duett mit Budd im dritten Akt. Nathan Gunn in der Titelpartie macht der Figur alle Ehre, mit rassigem Muskelspiel und profundem Bariton, und John Daszak zeichnet ein tenoral anrührendes, bisweilen auratisches Charakterbild des wankelmütigen Vere.

Der große Rest des Ensembles verteilt sich in einem Bühnenambiente (Erich Wonder), das zwar nicht an die Bounty und Erol Flynn denken lässt, wohl aber an Herbert Grönemeyer und „Das Boot“. Schiffsbauch, Uterus, Gummizelle, Lasterhöhle für nichts als „Rum, Peitsche, Sodomie“? Regisseur Peter Mussbach gibt darüber nur spärlich Auskunft. Ein kleines Matrosenballett in Glitzerpumps hier, ein paar eklige Blutspritzer da, ansonsten, treppauf, treppab, viel ächzender Realismus. Und große, blaue Chor-Tableaux. Die Psyche als perfekte Oberfläche.

christine Lemke-Matwey

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