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Kultur: Der Kattowitz-Blues

Polen und die Kohle: Der EU-Beitritt hat die Probleme dramatisch sichtbar gemacht. Besuch in Oberschlesien, wo alle kämpfen, jeder gegen jeden.

Er sitzt da, als wolle er einem gleich ins Gesicht springen. Der Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt, die Hände umklammern die Tischplatte vor seinem Bauch, die hellen Augen flackern durch sein riesiges Büro, in dem man, ohne ein einziges Möbel zu verrücken, einen Film im Stil des sozialistischen Realismus drehen könnte. An den Fenstern hängen geraffte Stores aus gelbem Stoff, an den Wänden Bilder von glücklichen Bergarbeitern. Auf dem mächtigen Schreibtisch am anderen Ende des Raumes surrt die Lüftung eines uralten Computers. Zucker?, fragt Maksymilian Klank, als die Sekretärin den Kaffee bringt. Doch sein Raubtierblick fragt etwas anderes: Was, um Himmels willen, wollen Sie von mir?

Klank ist noch nicht lange Chef der Kompania Wvglowa, des größten polnischen Steinkohlekonzerns, zu dem sich vor einem guten Jahr sieben staatliche Bergbaugesellschaften zusammengeschlossen haben, um sich auf den EU-Beitritt vorzubereiten. In seinem pompösen Büro im oberschlesischen Katowice (Kattowitz) wirkt er, als wäre er hier nur zu Besuch. Sein sportlicher Anzug passt nicht zu den lackierten Möbeln, seine unbeholfene Gestik nicht zu der Macht, die er verkörpert. Er spricht langsam, fast stockend. Zwischen den einzelnen Sätzen macht er lange Pausen, als müsse er sich selbst erst noch übersetzen. Aber vielleicht ist das auch nur Rhetorik. Klank sei Judokämpfer, sagt sein alter Freund Krzysztof Burzan. Der polnische Manager der deutschen RAG, so nennt sich die Ruhrkohle-AG seit ein paar Jahren, hält ihn für einen „verdammt geschickten Taktiker“. Burzan verfolgt das Gespräch, weil er sehen will, „wie der sich schlägt“.

Klank gilt als Kompromisskandidat auf dem Chefsessel, doch jetzt, da Polen Mitglied der EU ist, lastet auch auf ihm ein großer Druck: Auf der einen Seite stehen die in Polen traditionell starken Gewerkschaften, die ihn für den Handlanger einer „inkompetenten und unsozialen Modernisierungspolitik“ halten, auf der anderen Brüssel und Warschau, die ihm noch drei Jahre geben, um die 23 Gruben der Kompania Wvglowa auf „Europa-Niveau“ zu bringen. Und die polnische Kohle ist spät dran. Als im Laufe der 60er Jahre in Westeuropa begonnen wurde, den Bergbau zurückzufahren, war die Kohle noch Polens wichtigste Währung; bis Mitte der 90er Jahre wurde ihr Preis durch den Staat festgesetzt, mit der Folge, dass die Gruben konsequent am Markt vorbei produzierten. Die Kohle war der einzige Reichtum, der dem Land geblieben war. Heute gewähren polnische Banken den Bergwerken keine Kredite mehr. Öl und Gas sind die Rohstoffe der Gegenwart. Kohle importiert man aus der Dritten Welt. „Wir stehen vor einer Situation, für die es keine historischen Beispiele gibt“, sagt Klank.

In den nächsten drei Jahren wird sich entscheiden, welche Rolle die polnische Steinkohle auf dem Binnenmarkt überhaupt spielen kann, und es wird sich entscheiden, wie hoch der Preis sein wird, den Oberschlesien dafür zahlen muss. 300 000 Kumpel sind heute schon arbeitslos, weitere 100 000 Stellen in Gefahr. Das sei nicht schön, sagt Klank. Aber er habe keine andere Wahl. Wie alle Manager in seiner Lage spricht auch er von Herausforderungen, die größer seien als die Risiken, davon, dass kein europäisches Land so viel Kohle besitze wie Polen. Und wenn es gut laufe, könne das „unsere Chance sein“. Es ist sein Job, das Positive zu sehen, doch ob es gut läuft für die polnische Kohle, hängt auch von Faktoren ab, die außerhalb seiner Macht liegen. Der hohe Ölpreis kommt der Kohle im Moment zugute, auch der China-Boom, der dazu führt, dass das Land fast nichts mehr exportiert, wirkt sich positiv aus. Doch das sind temporäre Entwicklungen. Es bleibt die Frage, zu welchen Konditionen Russland künftig sein Gas nach Europa liefert und wie schnell die Löhne in Polen steigen. Noch verdient ein Bergmann im Monat etwa 2300 Zmoty, gut 400 Euro. Doch das, sagt Klank, werde in Europa natürlich nicht so bleiben. Er ringt sich ein Lächeln ab, wagt es aber nicht, einen dabei anzuschauen. Seine Augen fixieren das Kaminsims hinter Burzans Rücken. Darauf stehen Grubenlampen, geschnitzte Vasen und Figuren aus Steinkohle. Folklore einer Region, die in den letzten 250 Jahren nichts anderes hervorgebracht hat als Kohle und Stahl.

1855 wurden die ersten Kohlelieferungen aus Oberschlesien nach Berlin gesandt. Damals gehörte die heutige Gebietshauptstadt Katowice noch zu Preußen, nach der Reichsgründung 1871 war sie, je nach dem aus welcher Richtung man kam, die erste oder die letzte deutsche Stadt im schlesischen Dreiländereck. Ein paar Kilometer weiter östlich regierten die russischen Zaren, im Süden lag Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet polnisch, nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Gruben zwischen Gliwice (Gleiwitz) und Katowice der Motor für den Wiederaufbau des von der Wehrmacht verwüsteten Landes. In den 50er Jahren zogen Werber durch die Volksrepublik, um Bauernsöhne nach Oberschlesien zu locken. In der Wojewodschaft Katowice sollte der neue Arbeiteradel gezüchtet werden. Hier gab es die meisten Privilegien, die höchsten Löhne, Polski Fiats für alle und schöne große Wohnungen. Zwischen den alten Bergbausiedlungen schossen immer neue Plattenbauten in den Himmel, darunter lagerte Steinkohle für die nächsten 500 Jahre.

500 000 Tonnen im Jahr wurden hier gefördert und durch das planwirtschaftliche Regelwerk im ganzen Warschauer Pakt verteilt. Kohle war Ehre und Zukunft, Status und Versicherung. Bis heute setzen sich ehemalige Bergleute nicht gerne mit Bahnangestellten an einen Tisch. Jeder, der in Oberschlesien etwas zu sagen hat, komme zwangsläufig „aus dem Pütt“, sagt der Manager Burzan. Dass mit seinem Freund Klank ein Ökonom dem größten staatlichen Kohlekonzern vorsteht, sei eine Ausnahme. Aber auch Direktor Klank lässt sich einmal pro Woche unter Tage sehen. Dann trägt auch er den gelben Schutzanzug der Bergleute und watet durch staubige Schächte, in denen es heißer ist als draußen im Hochsommer. Hätte er sich das vor zehn Jahren vorstellen können? „Damals war ich Buchhalter“, sagt Klank. Er kann sich nicht mehr gut an diese Zeit erinnern. Vielleicht trug er damals Ärmelschoner, mit Sicherheit brauchte er nicht zu den Arbeitern an die Flöze zu gehen. Als Direktor muss er sich jetzt manchmal schmutzig machen, um das Vertrauen der Oberschlesier zu gewinnen. Die Kohle ist immer noch ihr Leben.

Jeder Hügel im Großraum Katowice ist eine Halde, jeder zweite Turm ein Förderturm. Bis vor kurzem waren die Häuser rußschwarz, im Winter lagen die Städte unter einer Wolke aus Abgasen und Staub. Wäsche konnte man nur drinnen trocknen, sagt Burzan. Aber das ist besser geworden, seitdem die meisten Fabriken Filteranlagen eingebaut haben und die Haushalte einen Gasanschluss bekamen. So gingen der polnischen Kohle in den letzten Jahren nicht nur die östlichen Märkte verloren, auch der Verbrauch im Land sank dramatisch. Dieses Jahr werden noch 85 Millionen Tonnen gefördert, ab 2005 soll, so eine Direktive aus Brüssel, die Produktion um weitere 9,2 Millionen Tonnen gedrosselt werden. Fünf weitere Bergwerke müssen schließen.

Eines davon ist Polski Wirek, die ehemalige Deutschlandgrube. Sie liegt in der Bergarbeitersiedlung Ruda Dljska, von Katowice fährt man dorthin eine gute halbe Stunde mit dem Bus durch die Vororte. Die Straße säumen kleine, backsteinerne Zweifamilienhäuser, die an die Arbeitersiedlungen von Essen oder Bottrop denken lassen. Kleine Paläste für große Helden. Sie wurden in den 20er Jahren für die Partisanen gebaut, für polnische Bergleute, die vor dem Ersten Weltkrieg für ein unabhängiges Polen gekämpft hatten. Ihre Nachfahren leben dort immer noch. In manchen Häusern wurde das charakteristische runde Fenster neben der Tür durch eine Wellpappe ersetzt. Ansonsten äußert sich Schlesiens neue Armut dezent. Als der Bus, ein alter gelber Ikarus mit quietschendem Gelenk, kurz vor Ruda Dljska über eine Brücke rumpelt, tut sich im Tal ein tiefes schwarzes Loch auf, eine wilde Grube, in der Arbeitslose nach Kohle graben, des Nachts rauben Jugendbanden die Güterwaggons aus, die Kohle von Ruda Dljska Richtung Katowice bringen. Der Manager Burzan nennt das „organisiertes Verbrechen“, andere nennen es Not. Auch die Schmalspurbahn, die das ganze Revier einmal verband, wurde von Schrottsammlern bis auf ein paar Kilometer demontiert. Doch am Tag sieht man vom Elend nur wenig, am Tag sieht man vor allem eine Landschaft, die für ein Industriegebiet verdächtig grün ist. Die Bäume knospen, der Flieder blüht, Kinder verehren den Statuen der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, selbst gepflückte Blumen. Katholizismus und industrielle Revolution waren in Schlesien noch nie ein Widerspruch.

Im Büro der Solidarnodk-Fraktion von Polski Wirek hängt eine bestickte Marienflagge, daneben das aktuelle Programm von „Radio Maryja“. Longin Nylezamek fehlt die untere Reihe Schneidezähne, in den Falten seines Jeanshemdes sammelt sich die Asche der Zigarette, die er gerade geraucht hat. Er spricht im oberschlesischen Dialekt. Alle Arbeiter reden hier so. Wenn der Direktor Maksymilian Klank sich mit den Gewerkschaftern trifft, bedient auch er sich ihres behäbigen Idioms. „Es geht um die Zukunft der Region“, sagt er dann. „Uns geht es aber mehr um die Arbeitsplätze“, sagt Herr Nylezalek. Vor ihm liegt ein dickes Manuskript: der jüngste „Businessplan“ für die oberschlesischen Bergwerke. Für den Gewerkschafter ein Ausbund an „Unwissenheit und Idiotie“. „Lügen, Lügen, Lügen“, ruft er und hält das Papier in die Luft, als spräche er in eine Kamera. Die Berechnungen gingen davon aus, dass der europäische Kohleverbrauch in den nächsten Jahren um 27 Prozent abnehme. Dabei erlebe die Kohle doch gerade einen Boom. Nachdem die europäischen Kokereien nach Asien ausgelagert wurden, gebe es, auch das eine Folge des China-Booms, gerade sogar einen Engpass an Koks. „Aber das verschweigt man uns.“ Er senkt das Haupt, lässt das Papier auf den Tisch knallen und schaut wieder auf, als erwarte er Applaus. Nylezalek ist es gewohnt, vor vielen Leuten zu reden, in seinem engen Büro wirkt die Theatralik ein bisschen aufgesetzt.

Er ist etwa 50 Jahre alt. Die Belegschaft hat ihn für vier Jahre zum Gewerkschaftsvertreter gewählt, sein Gehalt bekommt er weiterhin von der Zeche. Wenn Nylezalek Glück hat, greift nach der Schließung von Polski Wirek in seinem Fall schon die Frührente-Regelung und er bekommt nach der Entlassung 75 Prozent seines Lohns. Wenn er Pech hat, bekommt er ein halbes Jahr lang umgerechnet 70 Euro Erwerbslosenhilfe, danach kann er unter die Schrottsammler gehen. Polen ist kein Sozialstaat mehr, Arbeitslosigkeit hier gleichbedeutend mit Armut. Und letztlich ist es die drohende Verelendung der betroffenen Familien, die den Konflikt um die Restrukturierung des polnischen Bergbaus so erbittert macht. Sie ist auch der Grund dafür, warum sich vor dem EU-Beitritt keine Regierung wirklich daran gewagt hat. Dann musste es ganz schnell gehen.

Anfang des Jahres hat die Regierung dem Grubenwesen seine Schulden erlassen, im Gegenzug verlangt sie nun unbedingte Rentabilität. Für die Bergwerke heißt das: Sie konkurrieren auf dem Binnenmarkt nicht mit der Kohle aus Deutschland und Belgien, die nach wie vor staatlich subventioniert wird, sondern mit Billigimporten aus China, Afrika und Australien. Man könnte auch sagen: Warschau hat im letzten Moment den schwarzen Peter nach Brüssel geschoben. „Aber wir sind ja nicht blöd“, sagt der Solidarnodk-Mann Nylezamek. Im Internet haben sie herausgefunden, dass staatliche Subventionen von Brüssel nicht prinzipiell verboten werden. Viele europäische Länder, darunter auch die Bundesrepublik, geben viel Geld aus, um ihren Bergbau zu unterstützen. Nach dem Beispiel des deutschen „Kohlekompromisses“ haben die polnischen Gewerkschafter nun einen eigenen Strukturplan aufgesetzt. Doch wer soll das bezahlen? „Es steht Dokument gegen Dokument“, sagt Nylezamek. Und wenn sich niemand um das Gewerkschaftsdokument schert? „Streik.“

Streik ist ein Wort, bei dem polnische Politiker und Kohlebarone gleichermaßen zusammenzucken. Streiks sind in Polen eine außerparlamentarische Kraft, die Geschichte geschrieben hat. Die freien polnischen Gewerkschaften haben 1980 den kommunistischen Parteichef Edward Gierek aus dem Amt gestreikt, neun Jahre später den Sozialismus erledigt. Sie haben mit Lech Wamvsa den ersten polnischen Präsidenten gestellt und mit Mazowiecki und Buzek bis vor vier Jahren den Premierminister. Und es gehört zu den Paradoxien dieser Geschichte, dass die so genannten „Postkommunisten“ um Leszek Miller jenes radikale Modernisierungsprogramm in die Wege leiteten, das die konservative Buzek-Regierung Mitte der 90er Jahre aus Angst vor den eigenen Anhängern wieder in die Schublade gesperrt hatte. Ob es umgesetzt werden kann, hängt auch davon ab, ob die Gewerkschaften es akzeptieren. Maksymilian Klank, der Direktor der Kompania Wvglowa, nennt sie deshalb vorsichtig „unsere Partner“. Nur sein Freund Burzan, der als Angestellter eines deutschen Konzerns ein bisschen über den polnischen Dingen schwebt, nennt sie „ein Problem“. Die Gewerkschaften ließen sich für politische Zwecke missbrauchen, ja, sie benähmen sich, als gälte noch immer das Kriegsrecht. Schlimm sei das, sagt er und sucht seinen Autoschlüssel. Er will jetzt keine Diskussion über neoliberale Konzepte und sozialstaatliche Wirtschaftsauffassungen, die „wir uns nicht leisten können“. Er will hier weg.

Burzan hat selbst 17 Jahre unter Tage geschafft. Zuerst als einfacher Arbeiter, später als Ingenieur. Jetzt sitzt er in einem blitzsauberen Volkswagen und rast über die Landstraße von Katowice in Richtung Süden, zum ehemaligen Waldschlösschen der Grafen von Pleß. Dort liegt sein Lieblingslokal. Als auf halber Strecke ein Schild Richtung Auschwitz auftaucht, tut er, als habe er es nicht gesehen. Doch als wir durch die Satellitenstädte von Vory kommen, geht er vom Gas. Hier hat er mit seiner Frau und drei Kindern über 20 Jahre lang gelebt. Ihre Wohnung hatte drei kleine Zimmer und eine Küche ohne Fenster. Ein Arbeiterschließfach. Burzan lacht. Er kann sich das heute nicht mehr vorstellen.

„Ich habe die Seiten gewechselt“, sagt er. Nach der Wende hat Burzan für deutsche Konzerne übersetzt, die hier investieren wollten, er wurde Berater, heute ist er in der polnischen Dependance der RAG-Tochter „Deutsche Bergbau Technik“ (DBT) für den lokalen Markt zuständig. Krzysztof Burzan hat ein professionelles Interesse an der Modernisierung des polnischen Bergbaus. Je stärker die Gruben hier rationalisiert werden, desto mehr komplizierte Maschinen verkauft er für die DBT Polska im eigenen Land. In Deutschland gebe es schon Zechen, die vollautomatisch funktionierten. „Da müssen wir irgendwann hin.“ Im Ruhrgebiet wurde mit der Restrukturierung des Bergbaus vor 40 Jahren begonnen, sie ist bis heute nicht abgeschlossen. Ist es nicht der reine Wahnsinn, dass das arme Polen in wenigen Jahren schaffen soll, wozu das reiche Deutschland fast ein halbes Jahrhundert Zeit hatte? „Der Arme muss immer schneller laufen als der Reiche“, sagt Krzysztof Burzan und tritt wieder aufs Gas.

Er nimmt sich da nicht aus.

Stefanie Flamm

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