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Kultur: Der Kern der Stadt

Geben wir es zu: Jahrelang haben wir, reichlich fasziniert, nur hingeschaut.Standen mit unseren Gästen in der Infobox am Potsdamer Platz und staunten Bauklötzer.

Geben wir es zu: Jahrelang haben wir, reichlich fasziniert, nur hingeschaut.Standen mit unseren Gästen in der Infobox am Potsdamer Platz und staunten Bauklötzer.Über das phantastische Experiment, das da vor unseren Augen Materie wurde.Über die spannende, dauernd ihr Gesicht verändernde Baustelle, bis sie uns, den Kiebitzen auf der Kommandobrücke gewissermaßen, über den Kopf wuchs.Der Potsdamer Platz: ein work in progress, das zudem als größte Bau-Schaustelle Europas - seien wir ehrlich - auch gewisse Berliner Superlativismusbedürfnisse befriedigte.

Heute, da das Projekt, Handwerk und Kunstwerk zugleich, eilig seiner Vollendung entgegengeht, in das Weichbild der Stadt eintaucht und damit Bestandteil ambivalenter Wirklichkeit wird, haben wir eine Meinung.Genauer: zwei Meinungen.Die eine setzt auf Kiez und Kuschelbedürfnis und sagt: Das wird nie was.Das Ding ist ein Kunstherz, ein Implantat in der Mitte einer Stadt und - weil sie nun auch funktionierende Hauptstadt wird - eines Landes, das seit Jahrzehnten nicht zentralistisch war.So wie das Land Länder hat, lebt gerade Berlin von seinen zahllosen gewachsenen Zentren, in denen gearbeitet, gewohnt, gekauft und ausgegangen wird.Funktionierende Organismen also - und die stoßen Implantate gern früher oder später ab.

Die andere setzt auf den Kommerz, oder wenn man so will: das Kapital.Sie sagt: Geld zieht Geld.Wer so viel investiert, sorgt schon dafür, daß seine Sache funktioniert.Alles ist machbar, auch eine Stadt in der Stadt.Wer Büros für Tausende baut, zieht Läden und Restaurants nach.Wer Wohnungen dazusetzt, belebt den Stadtraum auch abends.Jobs schaffen Umsatz, Kultur schafft Leben - und ebenfalls Umsatz.Liegt der Platz zentral, kreuzen sich hier zudem die übrigen Wege.Man muß die Menschen nur anlocken, dann werden sie schon zu dem Blut, das durch das Kunstherz pulst.

Nüchterne Meinungen.Wenn heute mit einer Gala das mit 19 Sälen gewaltigste Kino Deutschlands mitten auf der Baustelle eröffnet wird, so darf das Ereignis auch als Testfall für jene Nüchternheit gelten.Ist es die erste Verzweiflungstat angesichts drohender Ödnis, oder startet damit nur eine exakt programmierte Operation, bevor in einem Monat mit dem Daimler-Benz-Gelände die größere der beiden Herzkammern des neuen Zentrums komplett in Betrieb geht? Das Selbstbewußtsein der Akteure spricht für letzteres.Schließlich ist Kino nicht nur Kulturindustrie Nummer eins, sondern auch - wegen der begleitenden Flanier- und Konsumierwünsche - Dauer-Eventbringer schlechthin, gut für Tausende von Besuchern jeden Tag.Kein Wunder, daß derselbe Betreiber gleich noch das Abenteuer schultert, für ein halbes Jahr das Musicaltheater nebenan zum größten Kinosaal der Nation zu machen.

Es braucht sie wohl beide, die Berliner Alltags-Skepsis und die mitunter in Muskelprotzerei umschlagende Aktivität der kulturell-kommerziellen Großunternehmer.Und doch gehen sie an jenem Gefühl vorbei, das diesen ungeheuren Bau-Plan von Anfang an begleitet hat und ihm den genuinen Schub für die Zukunft geben dürfte.Hat man auch nur kurz Gelegenheit, über das fast fertige Gelände zu gehen, stellt es sich unmittelbar wieder ein - als eine Mischung aus nun wörtlich bodenständig gewordener Faszination und Vorfreude.Denn der Potsdamer Platz in seiner neuen Gestalt wird schon jetzt als ein künftiger Stadt-Kern erfahrbar - zunächst vielleicht nur eines neuen urbanen Selbstverständnisses, fast zehn Jahre nach Vereinigungstaumel und darauffolgenden, ernüchternden Selbstbezüglichkeiten.Kann man einen historischer kaum denkbaren Platz als etwas unerhört Neues in Besitz nehmen, gewissermaßen überlieferungs-, also vorurteilsfrei? Der Countdown läuft: Vielleicht gibt es sie doch, die Ort gewordene Utopie.

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