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Kultur: Der Klang der Welt braucht keine Menschen

Es wird nicht still um seine Opern. Im vorigen Jahr kam "Der ferne Klang" von Franz Schreker, 1912 uraufgeführt am Frankfurter Opernhaus, auf die Bühne der Staatsoper Berlin.

Es wird nicht still um seine Opern. Im vorigen Jahr kam "Der ferne Klang" von Franz Schreker, 1912 uraufgeführt am Frankfurter Opernhaus, auf die Bühne der Staatsoper Berlin. Nun folgen "Die Gezeichneten" - 1918 in Frankfurt uraufgeführt, an der Staatsoper Stuttgart. Wer dort Aufführungen unter der Intendanz von Klaus Zehelein besucht, erlebt Musiktheatergeschichte. Dabei erfindet Zehelein den Opernbetrieb nicht neu, er macht, um es mit den Worten von Skispringer Sven Hannawald zu sagen, einfach nur sein Zeug.

Zeheleins Zeug sind ein durchdachter Spielplan, der klassische Werke als gegenwärtige und neue Werke als Klassiker behauptet. Hinzu kommt die Verpflichtung von Regieteams, deren Inszenierungen aufregen, weil die Stücke sie aufregen, sowie die beispielhafte Öffnung des Hauses für Publikum und Wissenschaft, das Experiment Junge Oper Stuttgart. Aber vor allem verfügt Zehelein über ein wirkliches Sängerensemble und einen Opernchor, geduldig über Jahre herangebildet: das Stuttgarter Ensemble. Da gibt es kaum Ausfälle, selbst in kleinen Partien.

Erinnert sich angesichts der bedingungslosen Hingabe des Staatsorchesters, seiner Auseinandersetzung mit komplizierten, "unspielbaren" Partituren eigentlich noch jemand daran, dass der Dirigent Lothar Zagrosek manchen Orchestermusikern einst geradezu aufgezwungen werden musste? Das Spiel des Staatsorchesters zur Premiere von "Die Gezeichneten" hatte eben jene Wucht und Raffinesse, eben jenen Überrumpelungseffekt, der Schrekers Zeitgenossen so verblüfft hat.

Auflösung des Ichs

"Was die Musik macht, ist", so Schreker damals, "das Geflecht der psychischen Bewegungen nachzuzeichnen." Aber die psychischen Bewegungen, die Schreker auskomponiert, gehen direkt ins Ohr des Hörers, ohne den Umweg über seine Opernfiguren zu nehmen. Je mehr sich Motive und Themen entfalten und zu sich selbst - genauer: zu Klang - kommen, desto mehr treiben Figuren und Handlungen auseinander, denen man sie gerade zuordnen möchte. Die musikalische Konstruktion beschreibt die Auflösung des Ichs. Wenn in dem kitschigen Satz Wahrheit ist, dass die Welt Klang sei, dann scheint in Schrekers Musik das Entsetzen darüber auf, dass der Klang der Welt nicht unbedingt auf Menschen angewiesen sein muss.

Die Aporien der Moderne zäumt Schreker vom Schwanz her auf. Und das suchen Regisseur Martin Kusej, Bühnenbildner Martin Zehetgruber und Kostümbildnerin Heide Kastler ins Bild zu zwingen. Nicht sie spalten das Premierenpublikum in begeisterte Applaudierer und wütende Buhrufer, das gelingt allein der Partitur Franz Schrekers, eine 1915 vollendete Kriegspartitur zu einem 1912 geschriebenen Vorkriegstext.

Der genuesische Edelmann Alviano Salvago, ein Krüppel, hat auf einer Insel ein Reich der Schönheit erbauen lassen, das er den Bürgern Genuas schenken möchte. Doch ohne Wissen Alvianos foltern und ermorden in seinem Elysium genuesische Adlige junge Frauen. Die Malerin Carlotta ist fasziniert von dem Krüppel, Alviano steht ihr Modell. Ihr Werben weist er zurück und als er es annimmt, stellt sie ihn still, um seinen Ausdruck im Bild festzuhalten. Während die Bürger Genuas die freigegebene Insel in Besitz nehmen, ergreift das verunreinigte Elysium Besitz von ihnen. Sie versinken in orgiastischem Taumel. Eine junge Frau, der die Flucht vor den Adligen gelang, sagt gegen Alviano aus, die Insel wird mit Bann belegt, Alviano angeklagt. Die Bürger Genuas jedoch krönen Alviano zu ihrem König und widersetzen sich seiner Verhaftung. Carlotta hat sich dem Grafen Andrae Vitelozzo Tamare hingegeben, die Schönheit wurde Beute des Starken. Alviano tötet Tamare, Carlotta stirbt und ein Narrenkönig Alviano taumelt irr davon.

Martin Kusej hat einen genauen Blick für erzählende Details: das Nachschleppen des Fußes bei Alviano, die Steifbeinigkeit seiner Haushälterin Martuccia oder Berührungsängste beim Geben und Entziehen von Händen, insbesondere der wesenlosen Hände Carlottas. Äußere Behinderungen drücken die inneren Verhinderungen der Figuren aus. Und Kusej hat Sänger, die nicht nur die exorbitanten Schwierigkeiten der Partien bewältigen, sondern ihre Stimmen ganz in den Dienst ihrer Figur stellen. Wahr geht vor schön, wahr ist schön.

Der Premierenabend gehörte dem Tenor Gabriel Sadé als Alviano, der die ganze Spannbreite von lyrischer Emphase über todwundem Ausbruch bis zu unwirklich deklamiertem Schluss, diesen im pianopianissimo, ganz ausschöpfte. Er gehörte der Sopranistin Eva-Maria Westbroek als Carlotta, die noch in der ekstatischsten Entäußerung sich selbst so fern scheint, als trüge sie den durchsichtigen Plastikmantel, in dem sie zuerst auftrat. Er sollte Körper, Arme und Hände vor Berührung schützen, auch als sie ihn längst abgelegt hatte. Der Premierenabend gehörte Claudio Otelli (Graf Tamare), Wolfgang Schöne (Podestà), Wolfgang Probst (Herzog Adorno). Er gehörte dem Stuttgarter Ensemble.

Doch Kusejs Blick wird dann ungenau, wenn er die Musik nicht ins Bild bringt, sondern doch nur wieder auf die Figuren umlegt, die sie laut agierend verdoppeln müssen. Kusejs Sänger bleiben immer Schauspieler, die mit ihrer Figur in eins fallen müssen, weil er Oper als höhere Form von Schauspiel behauptet. Wenn junger genuesischer Adel dekadent auf der Bühne herumlümmelt und die Peitsche knallen lässt, wenn Frauen sich lasziv an Wänden räkeln oder aus Elysium Ballermann wird, überhaupt in den Haupt- und Staatsaktionen des 3. Akts - überall da macht Kusej den Fotografen seines Komponisten. Was Orgie sein sollte, schaut eher wie harmlose östereichische Aktionskunst aus und das viele Blut nach ganz viel roter Farbe.

Aber einmal gab es rote Farbe, die war Blut. Glas und Rotweinflasche genügten, das Atelier Carlottas anzudeuten. Die Bilder, die sie von Alviano macht, sind Schnappschüsse ihrer Kamera, die ihn vervielfältigen, ohne ihn zu ergründen. Während Carlotta glaubt, Alviano zu malen, zeichnet sie nur blaue Farbe in die Fratzen seiner in grotesken Posen erstarrten Klone.

Wo ist die Patrone für Alviano?

Während der Narcissus sich selbstvergessen drehend doch wieder nur um sich selber kreist, ihrer Liebe sicher, die längst bei Tamare ist, da hat sie an den Händen rote statt der blauen Farbe. Die wäscht sie penibel fort, in einer Wasserlache, die vielleicht einmal reine Quelle war, unrein ab jetzt. In ihr hat Alviano während des Orchestervorspiels eitel sich gespiegelt. In ihr wird sich Alviano wieder spiegeln, wenn er Carlotta an Tamare verloren, wenn er Tamare erschossen - es trifft den Richtigen, obzwar mit falschem Motiv -, wenn Carlotta an Herzversagen gestorben und die Trommel seines Revolvers keine Patrone mehr für Alviano hat. Jetzt aber, in Carlottas Atelier, masturbiert der Krüppel über der erschöpft Zusammengebrochenen, die in der Wasserlache liegt.

Wo waren wir, bevor wir uns während des 3. Akts in Klimtschem Spiegellabyrinth verloren oder in der Massenpanik auf dem Wiener Ring 1908, unter Böcklinschen Faunen oder unter den Axthieben der Neuen Mitte zu Tode kamen? Wo waren wir während der beiden ersten Akte? In einer Fleischfabrik? Einem Schlachthof? Wir waren im Leichenschauhaus, dessen rollende Stellagen an die Stockwerk-Architektur der Autohäuser vor den Städten erinnern, in denen sich smarte Kleinwagen türmen. Die hier bieten Stapelplatz für die Bürger einer ganzen Stadt mitsamt verführten jungen Frauen. Irgendwo zwischen verrottenden Wänden treiben noch Träume, Hoffnungen, Liebe. In den Menschen auf der Bühne treiben sie lange nicht mehr; nur einmal waren sie zweien ganz nahe, als diese sich verfehlen mussten, in der Atelierszene des 2. Akts.

Es wird nicht still um das Werk des 1934 in Berlin gestorbenen Komponisten. Über "Die Gezeichneten" schrieb er: "In der Musik, in dem degenerierten Charakter dieses Werkes ist der Zusammenbruch Deutschlands, ja der Untergang unserer Kultur, einem Menetekel gleich, deutlich erkennbar." Was steht uns da bevor?

Jens Knorr

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