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Kultur: Der Klassiker-Automat

Beim Off-Festival „100°Berlin“ gibt es alles, was das Theaterherz begehrt – nur kürzer

Man sollte nicht denken, dass in der Freien Theaterszene die Klassiker verachtet würden. Während des viertägigen Marathon-Festivals „100° Berlin“, das im Hebbel am Ufer, im Theaterdiscounter und in den Sophiensälen Off-Produktionen jeder Couleur versammelt, kann man zum Beispiel fast jeden berühmten Stoff der Theatergeschichte sehen, von Albee bis Zuckmayer.

Und das funktioniert so: Man wirft am Klassikerautomaten eine Münze ein, sucht sich eines der säuberlich gelisteten Dramen aus, nennt der Maschine Stücktitel und Autor und wird aufgefordert, einen Schritt zurückzutreten. Dann öffnet sich die Klappe des hölzernen Kastens, ein roter Vorhang wird hochgerollt und der Schauspieler, der darin sitzt, spielt einem in ungefähr 30 Sekunden das Stück der Wahl vor. Der Klassikerautomat, eine Installation der Gruppe „Affe und Kuchen“, ist der Star des Abends. Wir wollen „Richard III.“ sehen, wegen des direkten Peymann-Vergleichs. Mit verheißungsvollem Wackeln und Blinken gehorcht der Automat und öffnet den Blick auf ein gekröntes Haupt, das einen nur kurz und finster anschaut. Ach! Liegt in diesen Augen nicht Richards ganzes Dilemma? Eins zu Null für den Automaten.

Man hat während des Festivals „100°“ viel Zeit, sich über die Schauspielerexistenz Gedanken zu machen, speziell in ihrer brotlosen Freien-Szene-Variante. Über das Theater als Dienstleister kann man sinnieren, über die Frage, ob Talent Berufsvoraussetzung ist. Natürlich variiert die Qualität der unüberschaubar zahlreichen, höchstens 60-minütigen Arbeiten stark, Auswahlbeschränkungen gibt es nicht. Eines jedoch sollten die Gruppen mal grundsätzlich beherzigen: keine Stücke anzufassen, die jedes Stadttheater genauso gut verhunzen kann.

Da sieht man etwa an einem Abend zweimal „Woyzeck“. Boris Nikitin und Malte Scholz machen aus Büchners Fragment eine Philosophie-Performance, in der sie die Bühne mit geschraubten Gedanken und einer Nebelmaschine einhüllen. Und die Berlin Drama Group lässt ihren „wo y zeck“ mit Maschinengewehrgeknatter auf der Videowand beginnen. Schnell zum Klassikerautomaten, „Woyzeck“ wählen. „Was glotzt ihr denn so? Guckt euch doch selbst an!“, ruft der Automaten-Schauspieler. Fertig. Herrlich.

In den Sophiensälen werden ein Zwei-Personen-„Othello“ und eine „Romeo und Julia“-Revue gezeigt, man sieht Stücke von Harold Pinter, Roland Schimmelpfennig, Yasmina Reza. Was unterscheidet denn eigentlich die Freie Szene wirklich von den etablierten Betrieben? Noch während man grübelt, trifft man einen freundlichen jungen Mann, der die Aktion „Stopping by“ bewirbt, was für unangemeldeten Besuch steht. Man kann Namen und Adresse hinterlassen und erhält dann irgendwann in den folgenden Monaten Überraschungsbesuch von einem der Stopping-by-Performer. Oha. Das würde einem, beispielsweise, am Berliner Ensemble nie blühen, ein Ernst Stötzner käme doch nicht unangemeldet bei einem vorbei. Klar, Stadttheater haben ihre Vorteile.

Aber es gibt sie doch, die Entdeckung. Den Beweis, dass gutes Theater nicht mal Schauspieler braucht. In „Flirt with Teheran“ werden drei Theaterbesucher im Auto durch die Stadt gefahren, während sie einer CD lauschen, auf der die Künstlerinnen Melanie Schlachter und Martyna Starosta eine Collage ihrer iranischen Recherche in Sachen Balzverhalten zusammengestellt haben. In Teheran fahren die Jugendlichen abends auf bestimmten Straßen auf und ab, um zu flirten. Geschlechtlich getrennt, versteht sich, in Autos voller Mädchen, voller Jungs. Sie suchen Augenkontakt, halten dann kurz und tauschen eilig die Telefonnummern aus. Es ist ein faszinierender Blick hinter den Schleier der staatlich verordneten Prüderie. Eine bewegende Fahrt.

Was nachts im Auto noch so passieren kann, davon handelt die zweite hervorragende Performance, die Aktion „nachtfahrt“ der Agentur Kriwomasow. In einem sagenhaften Cadillac – nebst Whiskeybar im Fond – werden zwei Zuschauer durch Moabit gefahren und hören, so wird behauptet, Mitschnitte von Gesprächen früherer Fahrgäste. Scheinbar unzusammenhängende Nachtgedanken, die sich zu einem großen Sehnsuchts-Chor fügen. Faszinierend. Es geht nun auf Mitternacht zu, und man wäre noch in Stimmung für irgendein Welten-Drama. Aber leider – am Klassikerautomaten hängt das Schild „Außer Betrieb.“

Noch heute, ab 15 Uhr. Weiteres unter:

www.hebbel-am-ufer.de

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