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Kultur: Der Klassiker

Joachim Kaiser zum 75. Geburtstag

Die Szene scheint unverdächtig: Ein älterer Herr beim Überqueren der sommerlichen Salzach, Beethoven-Noten unterm Arm, die freie Stirn umwölkt von Verantwortung, Wissen, Gedanken. Ein Rezensent, wie sollte es in Salzburg anders sein, auf dem Weg zur Arbeit. Nicht irgendein Rezensent, nein, sondern der Großkritiker, Musikpapst und Kunstrichter schlechthin, der „letzte Mohikaner“ (wie er sich selber gerne nennt): Professor Dr. Joachim Kaiser, leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Seit 1959 gehört er dem Münchner Blatt an, seit 1959 lehrt das Kürzel „J. K.“, das wie ein kleines Gebirge unter seinen Texten leuchtet, Dichter, Schauspieler, Dirigenten und Leser die Liebe und das Fürchten. Der Mann ist eine Instanz, eine Legende, ja „fast ein Heiliger“ seiner Profession (wie Kaiser einst über die Pianistin Clara Haskil schrieb, die er freilich nicht besonders mochte).

Eben jene Profession aber gilt, vorsichtig ausgedrückt, als durchaus zwiespältig, und 44 Jahre sind eine lange Zeit. Gewiss, als Kritiker muss man es weit gebracht haben, um dem Magazin des hauseigenen Verlages eine Titelstory wert zu sein: „Unser Mann in Salzburg“ hieß diese Geschichte (der wir übrigens auch den erwähnten Ritt über die Salzach verdanken), Mitte der Neunzigerjahre war das. Im Schauspiel erklommen gerade Berserker wie Castorf und Haußmann erste Gipfel ihres Ruhms, die klassische Musik dachte über ihre Popularisierung nach, und die Leser des SZ-Magazins erfuhren, dass Herr Kaiser Serviettenknödel und grünkarierte Pyjamas liebt. Der Star-Faktor stimmte, wenn man so will, und Kaiser tat und tut neben seinem virtuos alle Genres bespielenden Kritiken- und Bücherschreiben ein Übriges, diesen stetig zu steigern: Kolumnen in „Bunte“ und „Focus“, Auftritte im „Literarischen Quartett“. Ein zweiter Reich-Ranicki ist er deswegen nicht geworden.

Irgendwann freilich hat die Zeit begonnen, spurloser an Kaiser vorüberzugehen. Sein Hang zu „anständigen“ Klassikerinszenierungen ist seither sprichwörtlich, seinen Ruf als „Reaktionär“ verteidigt er lustvoll-offensiv, und wenn er in der Kategorie Lieblingskomponist des 20. Jahrhunderts George Gershwin nennt, dann watscht er mal eben im Vorübergehen alles ab, was Avantgarde heißt und hieß und ihm nie behagt hat. Ein bisschen schade ist das schon. Vielleicht ist es aber auch das gute Recht des Herrn K.

Wie Kaiser schreibt? Im glücklichsten Fall so, wie er spricht, in jenem ostpreußisch-herzerwärmenden Singsang nämlich, der schon Günter Grass berückte (was auch damit zu tun hat, dass Kaiser seine Texte meist diktiert, an der Brille kauend und heimliche Blicke in den Spiegel an seiner Bürowand werfend). Was man von ihm lernen kann? Wenig, außer dass das Ichsagen in Texten wie im Leben keineswegs nur Eitelkeit erfordert, sondern vor allem Leidenschaft und Mut. Was wir ihm wünschen? Dass die Kunst ihn noch lange lehrt, warum er auf dieser Welt ist. Und dass wir ihn bald wiedersehen, wiederlesen. Am besten gleich bei Schlingensiefs „Parsifal“ in Bayreuth.

Christine Lemke-Matwey

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