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Kultur: Der kluge Mitläufer

„Cioran, der Ketzer“: Patrice Bollon ergründet die biografischen Risse des rumänischen Philosophen

Das vorige Jahrhundert legte, besonders in den dreißiger und vierziger Jahren, viele Fallstricke für moralische und geistige Fehltritte aus. Das brachte nicht nur Günter Grass ins Straucheln. Auch der große rumänisch-französische Philosoph Emile Cioran verschwieg ein dunkles Kapitel seiner Biografie.

Cioran, äußerst flexibel und wendig im Verstand, gilt als Vertreter der dunklen und abgründigen Seite menschlicher Existenz. Anders als Grass versuchte er jedoch sein zeitweiliges Mitläufertum in der Zeit des Faschismus zumindest in seinen Schriften, ja in seiner ganzen Philosophie abzuarbeiten – auch wenn er sich niemals offen zu dieser Verfehlung bekannte. Cioran wählte einen weitaus schwierigeren Weg. Da er nie öffentlich bereute, konnte er auch von keiner Öffentlichkeit freigesprochen werden. Stattdessen büßte er für die Versuchung lebenslang und aus freien Stücken mit abgrundtiefem Skeptizismus.

„Die Skepsis ist eine Übung im Entfaszinieren“, resümierte er. Fortan stellte er alles infrage – am meisten sich selbst. Cioran entwickelte eine Philosophie, die weder einen Gott noch irgendeine menschliche Idee als Hoffnungsträger gelten ließ. Er agierte ablehnender als Nietzsche und war von einem radikalen Ketzertum regelrecht besessen. Und trieb sein Denken auf abschüssiges Gelände, um sich nicht noch einmal von einer wahnwitzigen Idee in den Bann schlagen zu lassen. Als Augenzeuge einer Diktatur, die ihre Wucht aus der Verblendung eines ganzen Volkes gewann, zog Cioran seine bitteren Lehren. „Solange noch ein einziger Gott steht, ist die Aufgabe der Menschen nicht erfüllt.“

Dass jede Haltung ihren Ursprung hat, verdeutlicht „Cioran, der Ketzer“ des französischen Journalisten und Buchautors Patrice Bollon, präzise übersetzt von Ferdinand Leopold. Wie sich aus den vehementen Irrtümern Ciorans seine komplexe Philosophie herausschält, wie die Widersprüchlichkeit im Denken seinen unnachahmbaren Stil begründete, wie Cioran Unzulänglichkeiten in Stärken wandelte – das alles ist in diesem intelligenten und kenntnisreichen biografischen Essay nachzulesen. Die 350 Seiten könnte man großzügig auch als erweiterten Diskussionsbeitrag zur deutschen Vergangenheitsverdrängung und -bewältigung lesen. Anders als andere Cioran-Biografen umgeht Bollon nicht verschämt das Frühwerk „Die Verklärung Rumäniens“ (Schimbarea la Fata Rumaniei, 1936), in dem er deutlich mit dem Faschismus sympathisierte und das deshalb bis heute noch kein Verlag ins Deutsche brachte. Bollon unterschlägt auch nicht jenes 1934 in einer rechtsgerichteten rumänischen Zeitung veröffentlichte Bekenntnis: „Es gibt keinen Politiker in der heutigen Welt, der mehr Sympathie und Bewunderung in mir hervorruft als Adolf Hitler.“ Der Autor versucht anhand biografischer Daten und der genauen Analyse der damals in Rumänien herrschenden Verhältnisse zu verstehen, was einen intelligenten jungen Mann wie Cioran derart in die falsche Richtung und trotzdem in die Meisterschaft einer stringenten Philosophie treiben konnte. Neben genauen Recherchen schöpft Bollon aus direkter Quelle, denn er war mit Cioran befreundet.

Bollon geht es nicht vorrangig um Ciorans politischen Fehler – um die Tatsache, dass einer der hellsten europäischen Philosophen am schwärzesten Kapitel der Geschichte mitschrieb. In erster Linie macht er Ciorans philosophisches Denken begreiflich, wobei er von biografischen Entwicklungen ausgeht. Wo wäre eine geistige Emanzipation nachvollziehbarer als in der Hinterlassenschaft eines Philosophen, in den von ihm selbst detailliert dokumentierten Gedankengängen?

Ciorans Bücher sind größtenteils auf Deutsch erschienen, dieser biografische Essay nun liefert den erhellenden Subtext dazu – eine Biografie, die ein Leben nicht chronologisch, sondern anhand innerer Entwicklungsprozesse zu ergründen sucht. So ist „Cioran, der Ketzer“ zu nichts Geringerem als einem geistesgeschichtlichen und philosophischen Essay auch über die historischen Entwicklungsmöglichkeiten und -ergebnisse im zeitgenössischen Europa geworden.

Zum Thema Tagesspiegel Online: Literatur Spezial Service Online bestellen: "Cioran, der Ketzer" Patrice Bollon : Cioran, der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 367 Seiten, 24,80 €.

Cornelia Jentzsch

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