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Früh berufen. Michael Wertmüllers musikalische Laufbahn begann mit 16 an der Swiss Jazz School in Bern.

© Doris Spiekermann-Klaas

Der Komponist Michael Wertmüller: Rebell im Zeitstrom

Beim heute beginnenden Festival März Musik sind zwei Arbeiten des Komponisten Michael Wertmüller zu erleben. Virtuose Stilexperimente prägen die Kompositionen des Wahlberliners. Eine Begegnung.

Wenige Komponisten haben die Schranken zwischen den Stilen so definitiv für sich aufgelöst wie Michael Wertmüller. Wenige Städte hätten ihm dafür einen so fruchtbaren Boden bieten können wie Berlin. In fast allen Sparten der Berliner Festspiele tauchte er schon auf, ob als Komponist bei März Musik, als Schlagzeuger beim Jazzfest oder bei einer Schlingensief-Produktion des Theatertreffens.

Vor 20 Jahren kam der 1966 im schweizerischen Thun geborene Musiker nach Berlin – und blieb. Wie so viele Komponisten und Interpreten avancierter Musik, Tendenz steigend. Warum denn in die Ferne schweifen?, dachte sich also Festivalleiter Matthias Osterwold und widmet den Wahlberlinern nun die 13. und letzte Ausgabe der März Musik unter seiner Ägide. „Nach Berlin! Nach Berlin!“ lautet das Motto des Neue-Musik-Festivals, das in den kommenden zehn Tagen bekannte wie unentdeckte Orte der Stadt bespielen wird.

Frühe Anfänge an der Swiss Jazz School

Als ich Michael Wertmüller morgens um acht im Café treffe, macht der Frühaufsteher gerade seine erste Arbeitspause. „So überbeschäftigt?“, frage ich. „Besessen!“, antwortet Wertmüller und muss über sich selbst lachen. Besessenheit prägt ohne Zweifel seine bisherige Laufbahn, die im Alter von 16 Jahren an der Swiss Jazz School in Bern begann. Mit seinem ungebändigt virtuosen Spiel machte er sich in der internationalen Jazz- und Rockszene schnell einen Namen. Gleichzeitig lernte er als Perkussionist des Berner Sinfonieorchesters das klassische Repertoire kennen: „Für mich als Komponist war diese Perspektive aus dem Inneren des Orchesters unheimlich wichtig.“

Kompositionsstudium im Berlin der 90er Jahre

Als Michael Wertmüller Mitte der 90er Jahre zum Kompositionsstudium bei Dieter Schnebel nach Berlin kam, war die musikalische Strahlkraft der Stadt noch eine andere: „Neue Musik war damals noch nicht so zentral in Berlin wie heute. Bekannt war vor allem die Rockmusikszene um Nick Cave, David Bowie und Bands wie Einstürzende Neubauten, Mutter, Massaker – das war in ganz Europa angesagt.“ Optimale Voraussetzungen also für das stilübergreifende Musikverständnis, das Wertmüllers Kompositionen prägt. „Ich konnte hier immer zweigleisig fahren: Nachts war ich im Jazz unterwegs und tagsüber habe ich fleißig Neue Musik studiert. Das war eine sehr intensive, schlaflose Zeit und ein Wandern zwischen den Welten.“

Musikalische Grenzüberschreitungen

An der hochkomplexen Schichtung verschiedener Rhythmen, Metren und Tempi erkennt man den Schlagzeuger in Wertmüllers Musik. Im Umgang mit der musikalischen Zeit liegt seine Passion und Stärke: „Ich bin kein Klangkomponist. Mich interessieren Zeitstrukturen“, sagt er. An der Zeit arbeitet er sich auch im Musiktheater „Anschlag“ ab, dessen komplettierte Version bei März Musik erstmals am 22. März in der Akademie der Künste (20 Uhr, 19.15 Uhr Künstlergespräch) zu erleben sein wird. „Die Zeit war schon immer ein Anschlag auf das Leben. Jede künstlerische Ambition ein Anschlag auf die scheinbare Aussichtlosigkeit, sich dem Zeitstrom entgegenzustellen“, erklärt Wertmüller. Wie selbstverständlich treffen sich hier der filigrane Klang eines Streichquartetts und der verstärkte Rocksound eines Hammondtrios. Für die drei Sängerinnen wiederum hat er sehr gesangliche Partien geschrieben, die an klassische Oper erinnern.

Mit Crossover habe seine Musik nichts zu tun, betont Wertmüller. „Neue Musik und Jazz mischen sich bei mir nicht, sie beeinflussen sich im Geist. Mir geht es um Virtuosität. Die Freiheit, mit der sie im Jazz gehandhabt wird, übertrage ich auf die Neue Musik. Was nicht heißt, dass in meiner Musik improvisiert wird. Im Gegenteil: Es ist alles genau notiert. Die Freiheit, die ich meine, ist eher eine metaphysische.“

Die Utopie als musikalischer Leitgedanke verbindet Wertmüller mit seinen Vorbildern und Inspirationsquellen: Beethoven, Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen, Charles Ives.

Virtuose Grenzüberschreitungen und irrwitzige Zeitüberlagerungen sind auch Schlüsselmerkmale von Wertmüllers „Zeitkugel“, ein Konzert für Klavier/Orgel und Orchester, dessen Neufassung der Solist Dominik Blum mit dem Konzerthausorchester unter der Leitung von Peter Rundel am 21. März im Konzerthaus (19.30 Uhr) aufführen wird. Bei der Uraufführung der Erstfassung 2010 beim Lucerne Festival stieß das anspruchsvolle Werk, das fünf Dirigenten erfordert, bei einigen Orchestermitgliedern auf großen Widerstand. Tränen flossen, von physischer und psychischer Überforderung war die Rede und die Aufführung stand bis zum Schluss infrage. „Die haben einfach gegen diese Utopien rebelliert und behauptet, das Stück sei unspielbar.“

"Nach Berlin! Nach Berlin!"

Berlin ist unter Komponisten Neuer Musik immer mehr zum Sehnsuchtsort avanciert. Das erlebt Michael Wertmüller auf seinen Konzerttourneen als Schlagzeuger des Trios Full Blast mit dem Saxofonisten Peter Brötzmann auf der ganzen Welt: „Da leuchten überall die Augen, wenn man sagt, man komme aus Berlin!“ Seit dem Mauerfall ist die Musikszene vielfältiger und internationaler geworden. Das hat nicht zuletzt ökonomische Gründe: „Junge Künstler, die sich etwas aufbauen wollen, kommen nach Berlin, weil man hier sogenannte randständige Musik machen und trotzdem existieren kann. Die Konkurrenz schafft ein hohes Niveau. Ich merke das auch daran, dass es immer mehr Junge gibt, die den Ehrgeiz haben, über ihre Grenzen zu gehen und meine Musik zu spielen. Für mich als Komponist ist eine große Motivation.“

März Musik läuft vom 14.–23.3., Infos unter www.berlinerfestspiele.de/maerzmusik

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