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Kultur: Der Kontrolleur des Abschieds

„Meine Freunde, meine Lieben“: Der große französische Chansonnier Charles Aznavour gibt ein „letztes“ Konzert in Hamburg

Von Thomas Lackmann

Warum dieser Mann jetzt Abschied nimmt – verstehe wer will. Er ist jedenfalls keiner von den koketten Scheintoten, die zehn Jahre den Vorhang fallen lassen. Er ist der Jüngste in diesem Saal. Während sich im Saal 1 des Congress Centrums Hamburg die Verehrer des letzten großen Chansonniers sammeln, finden im Nachbarsaal die 15. Norddeutschen Anästhesietage statt. Auf den teuren Ticktes der Verehrer in Saal 1, unter ihnen viele Frauen, die sich wieder mal richtig schön machen wollten, steht „The Last Tour“. Angespannte Gesichter erwarten den Mann, der Abschied nimmt. Verehrer aus zwei Generationen, entschlossen, ihm, der sie mit seinen Liedern begleitet hat und mit ihm vielleicht einem Abschnitt ihres Lebens, festlich Adieu zu sagen. Das ist kein Society-Event. Hier drängeln sich so genannte kleine Leute mit verschlissenen Feierabendträumen durch funktionale Stuhlreihen. Die Bühne: blau, rosafarben, bonbonbunt illuminiert. Am Ende des Abends wird das Männerpaar mit Baseballkappe „Bravo, Charles“ rufen, viele Frauen drängen zur Rampe, der kleine Mann auf den Brettern nimmt Sträuße in Folie entgegegen. Schleppt sie weg, holt die nächste Ladung ab. Da steht er mit Blumen, Blumen, wie ein knorriger Typ vom Großmarkt. Einer von uns, einer von ganz oben. Tänzelt davon, dreht sich im Kreis. Als werde das ewig ewig weitergehen.

An diesem Abend hat Charles Aznavour nicht nur sein Publikum unter Kontrolle. Er dirigiert das Mitklatschen, er unterbricht abrupt: „Photo oui, flash non.“ Er kontrolliert sein Programm, das sich jeden Abend ändert; alle Lieder gleich lang, keine Schnörkel. Er kontrolliert seine 13-köpfige, gut gelaunte Showband. Er kontrolliert seinen Körper, den federnd-gemessenen Auftritt, das legere Hinsetzen; das verschränkte Stehen am Mikrofon, das Schlendern und das Wegdrehen, den theatralischen Abgang, der auf der Stelle tritt. Er kontrolliert seine Gesten: die Hand in der Tasche, am verbindlichen Revers, die Handfläche der lakonischen Erzählung, die Faust; das Liebeslied in Taubstummensprache, wenn sein „Je t’aime“-Handteller überm Brustkorb kreist, bis die Leidenschaft mit einem Fingerschlenker allen Verstand aus der Stirn fegt. Er kontrolliert die Requisiten: Jetzt zieht er, ganz in Schwarz, das Jackett aus, jetzt nimmt er es in die Hand, jetzt zieht er es an. Jetzt schubst er den Stuhl nach vorn, zum showdown mit der abgetakelten Geliebten. Er kontrolliert seine warme, kräftige, ungebrochene dunkle Stimme. Er kontrolliert sein Gedächtnis, auch wenn ihm die Nachn seiner Streicherinnen nicht einfallen. Über 1000 Chansons hat er geschrieben, 28 singt er, ohne Teleprompter. Er ist 78.

Er ist der Mann mit den dackelnetten Knopfaugen, die sich kühl verschleiern. Vor 44 Jahren, in seinem preisgekrönten Kinodebüt, war er der Epileptiker, der ans Meer wollte und sich im Irrenhaus erhängte; er war Truffauts tragikomischer Pianist Charlie mit dem verlorenen Blick, er gab im bourgoisen Mordlabor des Claude Chabrol das armenische Schneiderlein, den wachsamen Beobachter des mörderischen Killer-Hutmachers, vor 20 Jahren. Immer hat er der Welt diese Knopfaugen gezeigt, Schutzbedürfnis und Härte, heute Abend beweist er: Alles hat sich gelohnt. Nach Hamburg hat der Emigrantenjunge, Millionär und Großvater, während er von „meinen Freunden, meinen Lieben“ singt und davon, dass er nicht vergessen kann, sein Leben mitgebracht. Seine Rollen, Verführer- und Versteherposen, die wunderbar trockenen frühen Lieder, auch den Schnulzenbombast; selbst wenn er die dämliche Verdeutschung seiner Originale hier nicht wiederholt. Er singt „Sa jeunesse. . . entre ses mains“, über die Verrücktheit des grenzenlosen Anfangs. Und „Yesterday when I was young“, über den süßen Geschmack des Lebens, über die Lieder, die er nicht mehr wird singen können. Dann aber „Viens“, einen Foxtrott: Die Glitzerkugel kreist. Der Alte im Spot tanzt selbstumschlugen den Autoknutscher der verliebten Einsamkeit, helle Flecken durchflirren den Saal.

Was hat er nicht geschafft in seinem Leben? Als dieser letzte Abend begann, wirkte Aznavour müde, routiniert. Dann verwandelte das Bühnentier sich und sein Publikum. Nun ist er da, will bleiben, will weg. Ein Geheimnis seiner Präsenz ist die Distanz. Er hat einen Augenblick erschaffen und lässt ihn los. Er gibt viel, aber schwitzt nicht. Kein Wort der Conférence kommt über seine Lippen. Seine Lieder haben Seele, er glaubt an sie, wie in Deutschland niemand mehr an Lieder glauben mag.

Wenn er abtritt, verschwindet eine Welt der Alltagsgeschichten, der Hoffnungen und Tröstungen. Als er „La Bohème“ singt, diesen Hit der Jugendträume aus den sechziger Jahren, leuchtet ein weißes Tuch in seiner Hand. Er wischt sich die Finger. Der melancholische Walzer explodiert in orientalische Tanzsynkopen. Er wirft das Tuch zu Boden. Er wird sich nicht fallen lassen, er kontrolliert, wie er geht, ohne Betäubung.

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