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Kultur: Der Kosmopolit als Scharfberichter Berliner Begegnung: zum

70. Geburtstag von V. S.Naipaul

Die Liste seiner Attribute ist lang. Zu seiner Geburt beschenkten ihn seine Eltern mit den Vorn Vidiadhar Surajprasad, „Spender der Weisheit“, „Geschenk an die Sonne“. Bewunderer und Kritiker nannten ihn „Kosmopolit mit universalhistorischem Weltbild“, „Chronist des Niedergangs“, „Scharf(be-)richter“. Die Queen erhob ihn in den Adelsstand, vergangenes Jahr wurde dem indischstämmigen Autor V. S. Naipaul, der in der Karibik aufwuchs und seit 1950 in England lebt, der Literaturnobelpreis zuerkannt.

Wenn Sir Vidia nach Berlin kommt, liest er in der neuen Britischen Botschaft. Ein kleiner, feingliedriger Mann, dunkelhaarig, weißbärtig. Gesenkten Blickes lauscht er der deutschen Lesung. Dann trägt er eine Passage vor in gepflegtem Englisch, ein kurzes Lächeln, thank you. So gewinnend, so unnahbar. Schwer zu sagen, ob man diesen Habitus dem Erbe indischen Kastendenkens, britischem Understatement oder persönlichem Eigensinn zuschreiben soll.

Die Welten prallen hart aufeinander in Naipauls Person und Biografie, und was immer er in fast 30 Büchern geschrieben hat, ging aus dieser Konfrontation hervor. Naipauls Texte suchen nie das formale Experiment – aber immer wieder den Weg von Trinidad nach England, aus Ausbeutung, Nichtwissen und Geschichtslosigkeit zum Studium in Oxford. Und den Weg zurück nach Westindien, dessen Riten und Denkgewohnheiten das Leben der Familie in der karibischen Plantagenkolonie prägten. Niemand lehrte die Kinder Hindi, niemand erklärte ihnen die Zeremonien, und sie fragten nicht danach. Die Ausnahme bildeten die Kurzgeschichten, in denen der Vater das verschwundene Leben der indischen Gemeinde festzuhalten versuchte – Vermächtnis und Berufung für den Sohn.

Alle Figuren Naipauls sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Geschichte zu erfinden. Sie haben keine. Sie kennen sie nicht. Sie schämen sich ihrer. Im glücklichsten Fall werden sie zum Schriftsteller. Mit wieviel Anstrengung dies verbunden ist, dokumentiert der eben auf deutsch erschienene Briefwechsel mit dem Vater aus der ersten Londoner Zeit. Wie leicht das Unterfangen scheitern kann, erzählt Naipaul in seinem jüngsten Roman „Ein halbes Leben". Auch Willie Chandran kommt zum Studium nach London, auch er beginnt, für die BBC zu schreiben. Aber ihm fehlt der eiserne Wille seines Autors. Willie wählt stets den einfachsten Weg, haut ab. Erst strandet er im portugiesischen Mosambik; als der Bürgerkrieg droht, rutscht er im nassen Blütenstaub aus, stürzt und sucht Zuflucht bei seiner Schwester – in Berlin. Ob er da ein „ganzes Leben“ finden wird? Die Chancen sind gering. Der Schwester scheint Deutschland zwar gut zu bekommen. Der deutsche Ehemann dreht Filme über Revolutionen und befindet sich meist „bei seiner anderen Familie“. Und für Willie ist das Terrain auch hier glitschig. Es droht der Schnee auf Charlottenburgs Bürgersteigen, „mit Pfaden aus Salz und gelbem Sand in der Mitte und verstreuten Häufchen Hundekot an den Rändern“.

Wenn Naipaul Europas zivile Errungenschaften verteidigt, bedeutet das nicht, dass er auf seinen gnadenlos kritischen Blick verzichtet. Kurze Frage an den Autor, während er das Buch signiert: Warum er nicht die Berlin-Passage gelesen habe? Verschmitztes Lächeln: Zum Vortragen braucht man eine Szene mit Dramatik! Simone Fässler

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