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Kultur: "Der Krieger und die Kaiserin": Die Sissi-Passion

Und wenn das ganze Leben ein Unfall ist? Eine Schrecksekunde mit Überlänge, beginnend mit dem ekstatisch aufgeladenen Zufall anderer Leute, endend mit dem, was wir gerne Schicksalsschläge nennen?

Und wenn das ganze Leben ein Unfall ist? Eine Schrecksekunde mit Überlänge, beginnend mit dem ekstatisch aufgeladenen Zufall anderer Leute, endend mit dem, was wir gerne Schicksalsschläge nennen? Und dazwischen: eine Art Trance und Hyperbewusstsein gleichzeitig, eingefasst von zwei großen Dunkelheiten?

Tom Tykwer liebt Unfälle. Fast vampirisch saugt er daraus Metaphern für das Leben, schickt seine Helden auf die ewig müßige, ewig spannende Reise zwischen Zufall und Schicksal. Unfälle, Beinahe-Unfälle, vergessene Unfälle, verdreifachte Unfälle in allen vier Filmen, die uns dieser begabteste unter den deutschen Regisseuren bisher - ja, darf man es sagen? - geschenkt hat. "Die tödliche Maria": Lebenslang gefangen zwischen Vater und Ehemann, taumelt sie auf ihrem täglichen Einkaufs-Freigang auf den Zebrastreifen und wird fast von einem Bus überfahren. In "Winterschläfer" gerät der Zusammenstoß auf einer verschneiten Bergstraße zum traumatischen Ereignis, an das der eine Beteiligte sich verzweifelt zu erinnern sucht, während der andere es aus seinem defekten Gedächtnis offenbar völlig getilgt hat. "Lola rennt" wiederum spielt, gerade in der Unfall-Szene, am schönsten sein "Was-wäre- wenn"-Spiel: Was wäre, wenn der Unfall vorm Supermarkt so oder so ausgegangen wäre - oder, dritte Variante, gar nicht erst stattgefunden hätte?

Todesstarrer Tausendfüßler

Und jetzt: der ultimative Unfallfilm. Franka Potente liegt unter einem Tanklastzug in Wuppertal - in einer Straße unter der Schwebebahn, diesem todesstarren Tausendfüßler, und wartet auf den Tod. Ein Zufall, ein ganz übler Zufall, das. Da kommt Benno Fürmann, ein Fremder, zu ihr gekrochen, eigentlich versteckt er sich gerade, und rettet sie, per Luftröhrenschnitt - es braucht dazu nur Strohhalm, Fahrtenmesser und ziemlich viel Mut. Schicksal, wunderbares Schicksal, das. Eine Riesenszene. Dreh- und Angel- und Höhepunkt von "Der Krieger und die Kaiserin". Vier atemberaubende Minuten am Ende des ersten Sechstels dieser ansonsten sehr episch voranschreitenden zwei Stunden.

Fast zu groß für diesen Film, diese Szene, sagen jetzt Leute, die Tom-Tykwer-Filme lieben. Zu früh diese Szene, sagen andere, das ganze Drama schon im zweiten Akt. Zu wahr vielleicht auch, diese Szene, möchte man hinzufügen. Der totale Stillstand da unter dem Laster, die tiefste, ausgespielte Mitte dieses Films: Er erzählt auch von dem merkwürdig totalen, plötzlichen Stillstand, der Tom Tykwer erfasst hat - nach dem furiosen Beginn mit zwei virtuos gemachten, elegant tief schürfenden Filmen, nach dem wundervollen Oberflächenglanz von "Lola rennt", nach all dem Jubel und all der mittlerweile auch internationalen Verehrung. Als sei Tykwer mit dem vielen Raum allein gelassen, den schneller Ruhm mit sich bringt und der seine Täter auch zu Opfern macht, und auf einmal stehen wir alle nur noch herum, in sicherer Nähe und Ferne zugleich, wie die Schaulustigen. "Der Krieger und die Kaiserin": ein Unfall?

Also: Bodo und Simone, genannt Sissi. Bodo ist der Body: Ex-Bundeswehrmann, Kampfsportler, arbeitslos - und seit seine Frau nach einem Streit auf einem explodierenden Tankstellengelände (kein Unfall!) ums Leben gekommen ist, hat es ihn aus der Spur gehauen. Sein Bruder Walter (Joachim Król) meint, Bodo sei nicht mehr "vom Klo runter gekommen", von eben jenem Tankstellenklo, auf dem er just zum Explosionszeitpunkt saß; fast eine fixe Idee. Deshalb will er die Bank, in deren Schließfach-Keller er als Wachmann Dienst tut, gemeinsam mit Bodo überfallen - und dann ab mit dem Geld nach Australien.

Sissi ist die Seele: eine sanfte, seltsame, heilige Johanna der psychiatrischen Klinik Birkenhof. Nach Dienstschluss etwa masturbiert sie regelmäßig einen jungen Patienten (Lars Rudolph), der einst ihre Mutter tötete, indem er den Fön in die Badewanne warf. Eines Tages will Sissi, begleitet von einem blinden Mit-Insassen (Melchior Beslon), der später ihretwegen fast umkommt (kein Unfall!), für eine in Südfrankreich lebende Freundin das Schließfach eben jener Bank leeren, die Bodo und Walter ausräumen wollen. Da passiert der Unfall mit dem Tanklaster, und Bodo ist zur Stelle. Fortan sucht Sissi Bodo - und weiht ihr Streben ganz dem Wunsch, ihn von sich und der Liebe und der Lust auf das Leben zu überzeugen.

Angst vor der Schlichtheit

Gewiss, eine Tykwersche Zufalls- und Schicksalsgeschichte wieder - aber wie ernüchternd explizit ist sie diesmal in Szene gesetzt, und wie erschreckend schlicht aufgelöst! Und mit welcher Angst vor der eigenen Schlichtheit dann auch wieder! Dort, wo Tykwer früher so traumwandlerisch spielte, zauberte und forschte, ja, alles dies in einem, marschiert der Film nun auf schmalem Grat: hier noch Bedeutungsschwangerschaft, dort schon die Sturzgeburt in die unfreiwillige Komik. Eine Zitterpartie. Und dass wir so zittern, liegt merkwürdigerweise an dem, was der Film - neben Frank Griebes Kamera und der Minimal-Musik, kongenial wie immer bei Tykwer - wahrscheinlich für seine unabweisbarsten Trümpfe hält: den Schauspielern.

Franka Potente war, zusammen mit Moritz Bleibtreu, als Tragi-Comic-Figur in Tykwers Dreisatz-Etüde "Lola rennt" ideal besetzt - menschgewordene Skizze eines großen Gefühls, für dessen Entwicklung ausdrücklich nicht die Zeit bleiben sollte. Hier, als Protagonistin einer mehrfach gebrochenen existenziellen Passion, steht sie auf verlorenem Posten. Schon für sich ist die Lebensgefährtin Tykwers womöglich mit einer solchen Rolle überfordert - mit Benno Fürmann als Partner aber hat das, was mit dem Satz "Irgendwo da draußen wartet die Liebe" beworben wird, nicht den Hauch einer Chance. Fürmann ist physisch ebenso präsent wie mimisch absent, und seine Tränen wirken, wenn er denn weinen muss, wie aus Stearin. Doppelt sinnfällig die Szene, als Potente ein zweites Mal zu jenem Schuppen hinaufsteigt, in dem Bodo und sein Bruder hausen: Es ist Nacht, es regnet in Strömen, wieder wird sie rausgeworfen, und dann hockt sie da wie ein kleines Mädchen, heult und wirft mit Lehm. Das soll tief berühren, und ist doch nur rührend.

Besonders fatal wirkt diese zweifache Fehlbesetzung, weil Tykwer seine schöne Lebenswünschelrute bislang immer Paaren in die Hand gegeben hat, starken, schüchternen und auch mal komischen Paaren. Zum Beispiel Nina Petri und Joachim Król in der "Tödlichen Maria": eine doppelte schauspielerische Offenbarung. Oder die Paarungen in "Winterschläfer": Floriane Daniel und Heino Ferch sind die perfekt liebens- und hassenwerte Alltagskarikatur, Marie-Lou Sellem und Ulrich Matthes geben, wunderbar zögernde Grübler, deren idealen Kontrapunkt. Solche Leute können Filme tragen, zärtlich und sicher, auch über mancherlei dramaturgische Untiefe hinweg.

Und nun? Tykwer dreht für Miramax, Potente dreht mit Johnny Depp und Matt Damon, man weiß es. Der Stillstand im Kino: In der Wirklichkeit ist er schon überwunden. Wohin? Unwichtig. Hauptsache, dass.

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