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"Der letzte Sommer auf Long Island" von Colson Whitehead: Sehnsucht nach Gefahr

Colson Whiteheads Roman „Der letzte Sommer auf Long Island“ handelt vom Aufwachsen in der schwarzen US-Mittelschicht während der achtziger Jahre

Die Bill Cosby Show veränderte alles. Noch zu ihrer Zeit, so erzählte es die Mutter, sei man aufgeregt durchs Haus gelaufen und hätte alle zusammengetrommelt, wenn auch nur ein schwarzes Gesicht im Fernsehen zu sehen gewesen sei. Nun ist sie selbst Teil einer Cosby-Familie, zumindest von außen betrachtet: Der Ehemann Arzt, sie Anwältin, drei Kinder, die auf Privatschulen gehen. „Wenn die Weißen es nicht machen, müssen wir es selbst machen“ – das ist das Credo des Vaters, der die Söhne körperlich züchtigt, wenn sie sich ihrerseits nicht handgreiflich gegen rassistische Zurücksetzungen wehren. Die für den Vater logische Berufswahl für Schwarze lautet: Lehrer, Geistlicher, Arzt, Anwalt, Krankenschwester, Zahnarzt, Beerdigungsunternehmer. Angesehene Berufe. Und dennoch ein Paralleluniversum.

Von und aus diesem Paralleluniversum heraus erzählt Colson Whitehead in seinem neuen Roman: vom Aufwachsen in der schwarzen amerikanischen Mittelschicht Mitte der achtziger Jahre, das höchstwahrscheinlich ebenso aufregend und gefährlich war wie ein Aufwachsen in Recklinghausen 1985. Also gar nicht Es kommt ohnehin darauf an, was man daraus macht. Bei Whitehead entsteht ein sprachlich bunt ausgemalter, geradezu fanatisch detailreich gestalteter Mikrokosmos. Ein Panoptikum weniger Sommermonate, scharf gestellt und atmosphärisch verdichtet. Sein Protagonist und Ich-Erzähler Benji ist 15 Jahre alt und verbringt wie jedes Jahr die Sommermonate mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder im Haus der Familie auf Long Island. Die Eltern kommen, wenn überhaupt, an den Wochenenden, was den Geschwistern durchaus recht ist. Die vermeintliche Cosby-Familie ist nur von außen betrachtet intakt, in Wahrheit ist der Vater ein Tyrann, der dem Alkohol ordentlich zuspricht. Die beklemmendsten Szenen des Romans erzählen von Benjis familiärer Intimhölle. Die ältere Schwester hat sich aus dem Staub gemacht, sobald sie konnte.

Sag Harbour heißt der Ferienort, wo sich, säuberlich von den weißen Urlaubern und Einwohnern getrennt, die schwarze Community einfindet, seit Jahren, seit Jahrzehnten. Man hat hier Grundstücke gekauft und Häuser gebaut, die man an die folgende Generation weitergibt. Die wichtigste Frage jeden Sommer, der Startschuss für die Ferienzeit sozusagen: „Wer ist noch hier?“ Soll heißen: Ist die Gang schon beisammen? Die „Gang“. Was für ein Wort für ein paar Jugendliche, die sich am Strand treffen, Musik hören und darauf warten, dass das wilde, harte Leben ihnen endlich mal eine Kostprobe dessen gibt, was es so zu bieten hat. Oder dass man sich zumindest einmal richtig besaufen kann oder irgendwelche Frauengeschichten hat. Die Zeit der Pubertät kann sich ewig dehnen.

Whitehead erzählt mit feiner Ironie von der tiefen Sehnsucht nach einem gefährlichen Dasein an einem in Wahrheit wohlbehüteten Ort: Klar, Benji und seine Kumpels besorgen sich in Gangsterrappermanier Waffen, und die Codes der Straße kennen sie alle und befolgen sie geradezu panisch – aber selbstverständlich handelt es sich bei den Waffen um harmlose Luftdruckpistolen. Selbst ein vermeintlich gesundheitsgefährdender Unfall im Umgang damit entpuppt sich letztendlich als harmlos. Alles eine Frage der vom jugendlichen Pathos gesteuerten Perspektive. Benji ist ohnehin ein klein wenig anders als die anderen – er mag die Smiths, eine britische Popband. Aber das behält er klugerweise für sich.

Whiteheads Sag Harbour ist ein schillerndes Disneyland der adoleszenten Sinneserfahrungen. Der Roman erschafft einen Stadtplan, angefüllt mit Erlebnissen, der sich zum komplexen, exakt beobachteten Bild eines Jetztzustandes verdichtet. Der erste Ferienjob in einer Eisdiele, die ersten Berührungen weiblicher Brüste (mal versehentlich, mal gezielt-unbeholfen), die ersten Jungs, die plötzlich im Auto vorfahren und so neue Machtverhältnisse schaffen. Überhaupt geht es viel um Macht und Ohnmacht, und sei es nur, dass letztere sich im Gefühl des Ausgeliefertseins an die Hässlichkeit der eigenen Zahnspange („an der Selbstachtung zehrende Totenköpfe, die mein Lächeln in eine von Speiseresten verunzierte Grimasse verwandelten“) niederschlägt.

Genau betrachtet ist „Der letzte Sommer auf Long Island“ bei aller so anheimelnden wie wohltuenden Nostalgie ein Stationendrama in Minischritten auf dem Weg von der Kindheit ins Erwachsenwerden. Und eine Beschreibung des Zustandes dazwischen. Der ist, im Nachhinein betrachtet, so komisch, wie er zum Zeitpunkt des Erlebens existentiell und monströs erscheinen mag. Wer die Erinnerung daran noch nicht verloren hat, kann sich in Colson Whiteheads Erinnerungs- und Zeitgemälde auf das Prächtigste verlieren.

Colson Whitehead: Der letzte Sommer auf Long Island. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl. Carl Hanser Verlag, München 2010, 330 S., 21,90 €.

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