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Kultur: Der Leuchtturm steht schief

Die Landschaften sind meist viel größer als die Menschen. Zum Abschluss des Filmfestivals in Cottbus

Sein Gesicht ist so weit, so reglos wie die kasachische Steppe. Nur manchmal geht ein kleiner Sandsturm darüber. Sie nennen ihn Schizo, weil er nicht viel mehr Reaktionen zeigt als diese Steppe. Aber etwas kann die Steppe nicht: Lächeln wie der fünfzehnjährige Mustafa, und dann geht eine ganze Jungenwelt auf.

Guka Omarowa aus Kasachstan ist Schauspielerin, Autorin, Dokumentarfilmerin und jetzt auch Regisseurin. Ihr Debütfilm „Schizo“ bekam am Sonnabend den Hauptpreis des Cottbuser Filmfestivals. Für eine jener Geschichten, deren Schönheit aus ihrer Lakonie kommt und deren brutaler Ernst nur eine Beiläufigkeit ist, aber dafür umso spürbarer. Etwa wenn Mustafa erklärt, er gehe jetzt in die Stadt, „um Geld kämpfen“. Geld verdient man nicht, für Arbeit gibt es ohnehin kein Geld, jedenfalls nicht so viel, dass man davon leben könnte – um Geld kämpft man. Gut, dass er ein „Schizo“ ist. Kein anderer könnte mit solchem Gleichmut eine Steppen-Bank überfallen und gleich nebenan rote Äpfel kaufen. Jungen wie Mustafa kann man gut benutzen. In Jungen wie ihm täuscht man sich leicht.

Ein härteschöner Film über das Erwachsenwerden. Ein verdienter Hauptpreis, wenn man davon absieht, dass sieben der zehn Wettbewerbsfilme ihn auch verdient hätten, jeder anders. Sah Cottbus jemals einen so starken Jahrgang? Alles scheint zu stimmen. Spätestens seit letztem Jahr ist Cottbus bekannt dafür, dass man es kennt. Der osteuropäische Film und die Stadt in Südbrandenburg sind ein Gedanke geworden. Ebenfalls seit letztem Jahr fallen Fragen der Form Wie-finanziere-ich-bloß-auch-im- nächsten-Jahr...? weg. Der Energieriese Vattenfall ist Hauptsponsor des Festivals, wofür man ihm umgehend den bemerkenswerten Titel „First Partner“ erfunden hat. Im letzten Jahr gewann Andrej Swjaginzews „Die Rückkehr“ den Cottbuser Regiepreis. Diese „Rückkehr“ – war sie nicht auch die des russischen Films? Soeben ging sie weiter. Mit dem unheroischen Kriegsdrama „Swoi“ (Gewinner des Moskauer Festivals), vor allem aber mit den beiden russischen Wettbewerbsfilmen „Igry Motylkow“ („Falterspiele“) und „Wremja Schatwy“ („Erntezeit“), die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber eine Kunst teilen: das Wesentliche nicht auszusprechen – um es so erst recht zu sagen. Und wir lernen, vor allem in „Erntezeit“: Landschaften sind meist viel größer als die Menschen. Das ist Realismus. Nur in dem estländischen Film „Somnambuul“ („Schlafwandeln“) sind die Menschen ungefähr genauso groß wie ihre Landschaft. „Somnambuul“ von Sulev Keedus ist der einzige Film des Wettbewerbs, über den man gar nicht reden müsste – muss man jetzt aber doch, denn ausgerechnet er ist der diesjährige Nachfolger der „Rückkehr“ geworden. Der Preis für die beste Regie für ein Werk mit mindestens fünf Schlüssen? Für einen Film, dem genau jene Rhythmussicherheit fehlt, die alle anderen so selbstverständlich zu besitzen scheinen?

„Schlafwandeln“ handelt von einem Leuchtturmwärter und seiner Tochter, allein im Leuchtturm 1944. Der Leuchtturm steht absolut schief, aber das ist das einzig Gerade an diesem Film. Sulev Keedus hat so viel Strindberg und Ibsen gelesen, dass er den unglücklichen Ehrgeiz entwickelte, in seiner Leuchtturmwärterstochter alle nordländischen Hysterikerinnen des 19. Jahrhunderts zusammenfließen zu lassen. Und das sind sehr viele. Egal, dass auch Krieg ist. Gegen diese Eetla ist der kasachische „Schizo“ Mustafa absolut normal. Meist schreit Eetla und trägt nur ausnahmsweise Unterwäsche, dabei ist es kalt an der Ostsee, besonders im Winter. Aber Eetla hat nur einen Gedanken im Kopf: Sex! Angst und Lust, Lust und Angst, mehr Angst, mehr Lust... Die Hysterie, sagen die Männer, die diese Frauenkrankheit erfunden haben, kommt, wie der Name verrät, von der Gebärmutter her. Zum Schluss bringt der alte Leuchtturmwärter sich um. Recht hat er.

Nun sind Juryentscheidungen ungefähr so unkritisierbar wie Wählerentscheidungen. Der wunderbare polnische Film „Wesele“ („Hochzeit“) zeigt mit viel Aufmerksamkeit für die Details, wie man sein eigenes Leben und das seiner Nächsten an einem einzigen Hochzeitstag komplett in Schutt und Asche legen kann. „Wesele“ bekam eine „lobende Erwähnung“. Klingt wie gutmütiges Schulterklopfen. Das ist zu wenig. Und die meisten anderen kriegen gar nichts? Hiermit seien auch sie lobend erwähnt, bis auf „Jedna Ruka Netleská“ („Einhändig kann man nicht klatschen“) von David Ondricek. Das ist der Publikumserfolg in Tschechien dieses Jahr. Anfangs eine punktgenaue schwarze Gaunerkömodie, entwickelt „Einhändig ...“ bald versteckt kulturkritischen Ehrgeiz. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Vielleicht ist Tschechien überhaupt der oberste Kulturkritiker des osteuropäischen Kinos. Der „Fokus“ des Festivals lag in diesem Jahr auf dem Filmland Tschechien. Oskarpreisträger Jan Sverák („Kolja“) hat Filme der Regisseure seiner Generation ausgewählt. Er nennt sie „die samtene Generation“, denn erst nach der samtenen Revolution haben sie ihre ersten Filme gedreht. Noch immer ist das tschechische Kino der große Vivisektor der Seele und der größte Dorf-Filmer ist es auch. Wo bei uns sofort sämtliche Schildwachen des Bewusstseins Aufstellung nehmen würden: Achtung Heimatfilm! – bei den Tschechen wird etwas wie kinematographische Rettung der untergegangenen, untergehenden ländlichen Kultur daraus.

Die Hauptpreisträgerin dieses Festivals ist 1968 geboren, das ist gutes Cottbuser Durchschnittsalter. Jahrgang 1957 zu sein wie der „Somnambuul“-Regisseur, streift hier schon fast die Gerontologiegrenze. Der Regisseur von „Kontroll“, des vielleicht bemerkenswertesten Films dieses Festivals, ist Jahrgang 1973. Nimród Antal, ein Ungar aus Los Angeles, hat in seinem Kinodebüt die Budapester U-Bahn porträtiert mitsamt ihrer Kontrolleure. Oder hat er die U-Bahn erst erfunden? Und die Kontrolleure? Ein Orwellsches Reich, aber sehr schnell, sehr lustig. Wir werden künftig anders U-Bahn fahren in Budapest. Der Cottbuser Fokus 2005 heißt Ungarn.

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