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Kultur: Der magische Leib

Heute wird in Rom Papst Johannes Paul II. zu Grabe getragen. Das öffentliche Begräbnis war immer schon Spektakel, Politik – und Drama

In diesen Tagen wird man heftig daran erinnert, dass die christliche Religion auf einem Leichnam gründet. Einem Auferstandenen, der in Golgatha am Kreuz einen öffentlichen Tod gestorben ist, damals eine weithin übliche Hinrichtungsart. Viele sagen, das Religiöse ist in die Welt, die westliche Welt, zurückgekehrt und damit auch der Tod in seiner spektakulären Anschaulichkeit. Es führen aber bekanntlich viele Wege nach Rom. Die überwältigende Verehrung des toten Papstes Johannes Paul II. mag manchem anachronistisch erscheinen. Dabei hat es vielleicht nur mit Gedächtnislücken zu tun, dass wir so ungläubig staunen.

Das 20. Jahrhundert war die Epoche zuvor nie gekannter Völkermorde und Weltkriege. Und zugleich das Jahrhundert besonders gewaltiger, bizarrer historischer Begräbnisse. Totenfeiern wurden zu schier übermenschlichen Dramen, überall auf dem Planeten. Beileibe kein katholisches Phänomen: Hindus und Moslems, Kommunisten oder Peronisten stürzten sich nach dem Ableben ihrer Lichtgestalt, mochte sie auch noch so finster gewesen sein, in (pseudo-)religiöse Fanale.

„Ein einzelner Toter ist eine Tragödie. Eine Million Tote sind eine Statistik.“ Stalin hat dies mit dem zynischen Pragmatismus des Massenmörders gesagt. Über den Tod hinaus wirkte die Aura des georgischen Schlächters. Bei seinem Leichenzug zum Roten Platz in Moskau kam es 1953 zu einer Massenhysterie, einer Stampede mit etlichen Toten.

Am Tag der Beisetzung von Karol Wojtyla in Rom will man vergleichen – das je Singuläre, Unvergleichliche. Wer erinnert sich daran, dass im August 1964 in Rom zur Beisetzung von Palmiro Togliatti, des legendären italienischen Kommunistenführers, eine Million Menschen zusammenströmten! Eine Rippe Togliattis wird bis heute, so war kürzlich zu lesen, in Perugia in einem Franziskanerkloster als Reliquie aufbewahrt. Togliatti war 1948 von einem rechtsextremen Attentäter schwer verletzt worden. Drei Kugeln wurden ihm aus der Brust entfernt, während der Operation musste man ihm, wie einst Adam, eine Rippe herausschneiden.

Die chaotischen Szenen beim Begräbnis des Palästinenserpräsidenten Yassir Arafat sind noch frisch im Gedächtnis. Doch als im Juni 1989 der Ayatollah und Staatsführer Khomeini starb, erlebte der große Zeremonienmeister, der Tod, seine wohl größte Stunde. Sechs Millionen Trauernde auf den Straßen Teherans, zig Tote und Verletzte in der unvorstellbaren Masse. Fanatiker rissen sich um den Sarg, um die Leiche zu berühren. Khomeini-Bilder prangen bis heute in der iranischen Öffentlichkeit.

Millionen Inder gaben Mahatma und auch Indira Ghandi das letzte Geleit: Es ist nicht neu, es war nur unterdrückt und vergessen, was wir jetzt erleben. Was die westliche Zivilisation mit ihrer Bestattungsindustrie und High-TechMedizin aus dem privaten Raum verbannt hat. Was viele Menschen durch Wojtylas Passion zum ersten Mal erfahren: die Magie des toten Leibs. Der aufgebahrte Körper des Papstes übt eine archaische Faszination aus. Er war der Reisepapst. Und bei seiner letzten Reise kommen sie zu ihm. Seine Erscheinung im Papamobil hatte auch schon etwas Reliquienhaftes.

Könnte man alle Menschen, die jemals den einbalsamierten Lenin im Mausoleum am Kreml gesehen haben, in einer Reihe aufstellen, so reichte diese Schlange wohl um die ganze Welt. Waren diese zig Millionen knallrote Kommunisten oder nur Touristen und Schaulustige oder Schüler und Soldaten, die einen Pflichtbesuch bei Wladimir Iljitsch machten? Eine ähnliche Frage stellt sich nun in Rom. Was bewegt die Leute, die sich allerhand Strapazen zumuten? Ein Massenauflauf ist nicht ohne Gefahren, wie die Geschichte lehrt. Kritische Beobachter des bislang beeindruckend friedlichen und gut organisierten Kampfes um Rom sprechen von einem Medienereignis. Als ob es allein das Fernsehen wäre, das die Massen auf die Beine bringt.

Sicher trägt die TV-Totalität dazu bei, die Zahl der Pilger, der Trauernden und der Mitgänger auf dem Petersplatz in Rekordhöhen zu treiben. Doch Massenaufläufe und Massenhysterie, wozu es bei solchen Anlässen immer wieder kommt, sind kein Phänomen des Medienzeitalters. Im Gegenteil. Die mediale Strahlkraft eines berühmten, geliebten oder gefürchteten Toten existiert auch ohne elektronische Übermittlung. Ein ikonografischer Leichnam – so war es bereits bei den Königen des Mittelalters – ist das Medium an und für sich. In den Zeiten vor dem Fernsehen geriet die oft hochpolitische Inszenierung von Begräbnissen – wie auch von Hinrichtungen – zum öffentlichen Ereignis. Ein uralter kommunikativer, kollektiver Akt des Nah-Sehens.

Rudolph Valentino, der schönste Mann der Stummfilmära, starb 1926. Seine Beerdigung in New York wollten 80 000 Menschen miterleben. Es gab Schlägereien, Chaos, Selbstmordversuche von weiblichen Fans am offenen Grab – alles ohne Fernsehkameras. Staatsakt, Voodoo-Messe: Eva Peróns Tod stürzte 1952 ganz Argentinien in Trauer, Wahnsinn und Aufruhr. Evita war Religion. Heilige Landesmutter, so wie Ché Guevara ein lateinamerikanischer Christus war. Evitas nach einer – bis heute unbekannten – Spezialmethode präparierte Leiche hatte ein bewegtes Nachleben: Sie wurde von Peronisten entwendet, nach Europa gebracht, unter falschem Namen in Italien beerdigt. Neunzehn Jahre nach ihrem Tod wurde der Sarg geöffnet. Sie lag da, unverändert, in voller Schönheit. Ein Zeichen, ein Wunder?

Es sind jetzt schwere Tage für eingefleischte Skeptiker. Als habe sich die Welt über Nacht entsäkularisiert. In der katholischen Kirche verschieben sich die Gewichte durch die Zahl der Gläubigen nach Süden, nach Afrika, Asien und Lateinamerika. Die archaische Wucht der katholischen Theatralik ist aber mitten unter uns. Nach dem Tod dieses Papstes wird man exotische Zeremonien von Mekka bis zum Ganges anders betrachten. Die abendländische Rationalität ist eine dünne Oberfläche.

Rüdiger Schaper

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