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Kultur: Der Mann, der Agnes heißt

Familiengeschichten: Oskar Roehler dreht eine Tragikomödie über sexuelle Begierde – in der leeren Staatsbibliothek

Die sehr junge Frau mit den sehr langen Beinen räkelt sich auf ihrem Drehstuhl, um besser in das seltsam altertümlich wirkende Mikrofichegerät zu sehen. Vom Schreibtisch des Dienst habenden Bibliothekars aus fällt der Blick auf eine lange dunkle Mähne, auf den spitzengesäumten Rand von Kniestrümpfen, die aus langen Stiefeln ragen und einen ziemlich kurzen Rock. Der Bibliothekar kramt nervös in seiner abgewetzten Aktentasche herum und starrt auf Frauenbeine, hochhackige Schuhe, enge Röcke, hauchdünne Strümpfe. Plötzlich stakst die Langbeinige heran, und fragt: „Ich suche einen Überblick über den Begriff der Entität in der Philosophie.“ Der junge Bibliothekar im unscheinbaren Polohemd springt hektisch auf und will der Schönen zu Hilfe eilen. „Schluss“, ruft da ein anderer, und: „Nochmal!“

Wir befinden uns in der altehrwürdigen Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Über der Szenerie wölben sich die Ufo-Lampen in Hans Scharouns architektonischem Meisterstück. Atemberaubend ist auch der Anblick darunter: Holde Weiblichkeit, wohin man blickt. Zwar sind auch ein paar ältere Herren in Historikercord und bebrillte Studenten in Juristentweed anwesend und auch der von David Wagner einmal boshaft als „Stabilette“ karikierte Typus Doktorandin mit Bundfaltenjeans und Perlenkette überm Angorarollkragen sitzt vereinzelt in den Bänken. Die vielen Schönheiten, die dem Bücherwurm den Sinn vernebeln, unterscheiden sich aber auffallend vom gewöhnlichen Lesesaalpublikum. Es ist die Komparserie eines ungewöhnlichen Filmes, der hier am Feiertag hinter verschlossenen Türen gedreht wird. Der Bibliothekar ist kein anderer als der Filmschauspieler Moritz Bleibtreu, die Kommandos gibt sein Regisseur Oskar Roehler.

Wenig später sitzt Roehler im Foyer und ist begeistert: „Toller Ort, die beste Bibliothek, die wir finden konnten.“ Schon Wim Wenders drehte hier „Himmel über Berlin“. Drehpause. Es ist der letzte von 36 Drehtagen – für eine deutsche Produktion ist das eher eine lange Zeit. „Agnes und seine Brüder“ heißt der Film. Eigentlich spielt er in Köln. Im Film wird die Stabi deshalb mal eben ins Rheinland verlegt, so will es das Drehbuch. Roehler steht die Anstrengung eines langen Drehmonats ins Gesicht geschrieben. Der neue Film des Erfolgsregisseurs hat sich nun das Thema Familie vorgenommen. „Ich will ein komplexes, aber sinnliches Bild der Gesellschaft entwerfen“, sagt der Mann mit der dicken schwarzen Hornbrille. „Was eignet sich da besser als eine ganz normale kaputte Familie?“

„Agnes und seine Brüder“ ist die Geschichte so einer Familie. Drei Söhne, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu) ist ein sexsüchtiger Spanner, der sich in der Fassade eines biederen Berufs eingerichtet hat. Den missbraucht er allerdings für seine sexuellen Obsessionen. Werner (gespielt von Herbert Knaup) ist Politiker bei den Grünen mit augenscheinlich glücklicher Familie. Doch seine Frau hat ihn innerlich längst verlassen und die eigenen Kinder versuchen ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Agnes, der dritte Bruder, tingelt als Tänzerin durch Nachtclubs, er hat aus Liebe zu einem Mann eine Geschlechtsumwandlung hinter sich. Der Geliebte wandte sich danach von ihm/ihr ab. Drei ungleiche Brüder, die nur die gemeinsamen Gene verbinden, die ihnen der innig gehasste Vater vererbte.

Das ist noch keine Geschichte, aber eine Konstellation, die voller Geschichten steckt. Roehler-Geschichten. Der Regisseur schreibt seine Bücher stets selbst. Das rasant geschnittene Debüt „Sylvester Countdown“ (1997) inszenierte mit Wucht die leidenschaftliche Reise eines durchgeknallten Liebespaares ins Nirgendwo. „Die Unberührbare“ war das Psychogramm des Suizids der eigenen Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner. Sein jüngster Film, der Berlinale-Erfolg „Der alte Affe Angst“ verarbeitete die Beziehung zum verstorbenen Vater Klaus Roehler. Und nun wieder ein Familienfilm.

Welcher der drei Brüder dem Filmemacher selbst am nächsten ist? Der mittlere, sagt Roehler spontan. Also der Sexbesessene. Da korrigiert er sich eilig: Nur ein Spaß. Ihm gehe es nicht um Selbstdarstellung, sondern um ein Gesellschaftsbild: „Um Ehestreit, Begierden, Berufsprobleme – um das Leben an sich.“ Ein Gesellschaftsgemälde, kein Problemfilm – sofern man das von einem Roehlerfilm erwarten kann – etwas Leichtes. Komik, die aus der Tragik geboren wird, „keinen Feelgood-Film“ wolle er drehen. In jedem Fall einen ohne Nazivergangenheit und Mauerfall, einen, der vielleicht gar nicht so deutsch ist, wie man dies auf internationalen Festivals erwartet. Ihm schwebe etwas wie „Magnolia“ vor, sagt der bekennende Fassbinder-Jünger, vielleicht auch wie „American Beauty“, sofern Deutsche so etwas überhaupt drehen könnten.

Doch wenn das einer kann, dann Oskar Roehler. Durch die hohen Fensterfronten der Stabi fällt inzwischen das milde Herbstlicht, die Pause ist vorbei. Der Produzent Stefan Arndt (X-Filme) ist auf einen Plastikbecher Kaffee vorbeigekommen. Arndt blickt nach seinem Erfolg „Goodbye Lenin“ optimistisch in die deutsche Filmzukunft und freut sich über Berlins Hilfe. „Einen Drehort wie die Stabi für eine derart anzügliche Szene zu nutzen – das wäre früher kaum möglich gewesen.“ Am Set gibt es derweil ein großes Hallo, als plötzlich ein hoch gewachsener Typ mit Trainingshose und tief in die Stirn gezogener Basecap auftaucht: Til Schweiger. Kam mal eben so vorbei, um seinen Freund Moritz Bleibtreu zu besuchen. Und nun drängen ihn alle, als „Edel-Komparse“ mitzuwirken. Ein paar Statistinnen werden für die Voyeurszene in der Damentoilette geschminkt, und ein paar Drehminuten später steht fest: Der Til, der macht das. Eine kleine Rolle ehrenhalber wird schnell ins Skript eingebaut. So familiär kann es zugehen beim deutschen Film. Vielleicht wird Berlin doch noch die Filmstadt, die man sich so lange erträumte.

Und: „Nochmal!“

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